im Flüchtlingslager 1945

Sprache als Rettung im Konflikt mit einem russischen Besatzungsoffizier

 

Ein Bericht zu diesen Ereignissen wurde am 27.11.2012 an Wilfried Lübeck übergeben, aus Anlass der Vorstellung seines Buches „Die Fälle häufen sich“. In dem Buch werden die Verbrechen der Roten Armee in Ostdeutschland nach dem Krieg dokumentiert. In einer neuen Form wurde der Text am 12.03.2018 dem Museum „Roter Ochse“ in Halle übergeben, in dem zu dieser Zeit eine Ausstellung über die sowjetische Besatzungszeit in Halle stattfand.

 

Nach der Flucht unserer Familie 1945 aus dem Wartheland, erst mit dem Pferdewagen und dann weiter mit der Eisenbahn, landeten wir als Flüchtlinge in einem Barackenlager in Halle an der Saale, Otto-Stomps-Sreaße 11-20 in der Nähe der Diemitzer Kirche.

Im Juli 1945 wurde die amerikanische Besatzungsmacht in Mitteldeutschland durch die sowjetische abgelöst Eines Tages, an einem heißen Tag im Sommer 1945 oder 1946, machte ein russischer Offizier Jagd auf ein etwa 15-jähriges Mädchen aus dem Lager. Der Vater des Mädchens stellte sich ihm in den Weg, worauf der Offizier seine Pistole zog und diese laden wollte. Der Vater des Mädchens hielt den Offizier von hinten an den Armen, so dass dieser nicht laden konnte und rief um Hilfe. Mein Vater Johann Kraus kam als Einziger zu Hilfe. Sie überwältigten den Offizier, nahmen ihm die Waffe weg und fesselten ihn. Als es dunkel wurde, konnte er sich aber befreien oder es hat ihm jemand die Fesseln losgebunden. Jedenfalls sah ihn mein Vater über den Acker Richtung des Hügels Dautsch davonlaufen. Am nächsten Tag ging mein Vater zur russischen Kommandantur in Halle und gab dort die Waffe ab. Dass er dort lebend wieder herauskam, ist wahrscheinlich nur dem Umstand zu verdanken, dass er nicht mit den Russen, sondern mit den Ukrainern unter ihnen in ihrer Muttersprache reden konnte.

Wie die meisten Galiziendeutschen konnte mein Vater fließend polnisch und ukrainisch sprechen. „Man konnte mich nicht von einem Polen oder Ukrainer unterscheiden“ sagte mein Vater wörtlich.

Zwei Tage später an einem Vormittag, als mein Vater auf Arbeit war, kamen mehrere Russen mit einem Auto vorgefahren und schlugen die Familie des Mädchens mit ihren Gewehrkolben zusammen. Es fand sich kein Arzt, der die Verletzten behandeln wollte. Ich als sechsjähriger neugieriger Junge hörte das Stöhnen der Verletzten aus der offenen Wohnungstür gegenüber unserer Wohnung in den Baracken. Schon als das russische Auto am Lagertor erschien, drehte meine Mutter blitzschnell den Schlüssel an der Tür um und kroch mit uns Kindern (Werner und Artur) unter das Bett. Ich erinnere mich, dass kurz darauf an der Türklinke gerüttelt wurde. Die Soldaten waren gut informiert.

Aber damit war die Geschichte für meinen Vater noch nicht zu Ende. Die Russen holten ihn eines Tages ab und legten ihm ein Schriftstück zur Unterschrift vor, auf dem er angebliche Verbrechen in der Nazizeit zugeben sollte und er sollte als Wiedergutmachung dafür sich für Spitzeldienste bereit erklären. Es war eine damals übliche Methode, sich die Menschen gefügig zu machen. Mein Vater lehnte es ab zu unterschreiben, weil er die erfundenen Verbrechen nicht begangen habe. Das Verhör fand in Halle in der Reilstraße, Ecke Mozartstraße statt und zog sich über mehrere Tage hin.

Sie versuchen ihn erst zu ködern, indem sie ihm Zigaretten anboten und ihn als einen der Ihren bezeichneten, weil er eben ukrainisch sprach, dann aber haben sie versucht, ihn mit Faustschlägen einzuschüchtern. Seinen Höhepunkt fand das Verhör offensichtlicht damit, dass mein Vater sich das Hemd aufgerissen hat und sagte, sie sollten ihn doch gleich erschießen. Mein Vater sagte später dazu, dass er schon mit seinem Leben abgeschlossen hatte, weil die Arbeit der GPU meistens tödlich endete. Es war noch die Zeit Stalins und Stalins Geheimdienst GPU war auch in Galizien für seine todbringende Arbeitsweise bekannt gewesen. Heute sehen wir leider, dass die abenteuerliche Politik Russlands  immer noch von einem Geheimdienst bestimmt wird.

Der russische Geheimdienst wurde von Lenin mit dem Namen „Tscheka“ gegründet, hieß ab 1922 GPU und von 1954 bis zum Ende der Sowjetunion im Jahre 1991 war es der sowjetische Geheimdienst KGB. Der Name änderte sich bis heute mehrmals, aber nicht das Personal. Noch in Sowjetzeiten wurde Wladimir Wladimirowitsch Putin als KGB-Offizier ausgebildet. Auch Kyrill, der jetzige Patriarch der russisch orthodoxen Kirche in Moskau war vorher KGB-Offizier. Beide wollen nun ein russisches Kolonialreich „von der Ostsee bis zum Pazifischen Ozean“ mit Gewalt durchsetzen. Andere russische Politiker sagen „von Portugal bis Wladiwostok“!

Warum mein Vater 1945 mit dem Leben davon kam, wurde mir erst 2022 klar, als der von Russland aufgezwungene Krieg die erstaunliche Widerstandskraft der Ukraine offenbarte. Wahrscheinlich gab es in der russischen Geheimpolizei GPU schon damals Offiziere, die sich als Ukrainer aus Nationalstolz von den Verbrechen des russischen Militärs distanzierten.

Die Demütigung eines Russen durch meinen Vater begrüßten sie wohl mit heimlicher Freude und wahrscheinlich nur deshalb blieb der Vorfall für meinen Vater ohne Folgen.

Anders gesagt - auch in den unmenschlichen Systemen jener Zeit gab es Menschen, die den Spielraum ihrer Freiheit in einem menschlichen, positiven Sinn genutzt haben.