Die Umsiedlung der Galiziendeutschen am
Beginn des Zweiten Weltkrieges
Vortrag von W. Kraus zum 21.
Galiziertreffen in Kütten bei Halle am
28.09.2019.
Erschien im Juli 2020 im „Galizien
German Descendants newsletter“
(corcoranmary01@gmail.com
22.03.2020),
redigiert von Mary Johnson Corcoran aus Polson, Montana, USA
mit Wurzeln in der Familie Defee aus Bruckenthal/Galizien.
Stark gekürzt Mai 2023 - Als
Vortrag am 3. Juni 2023 in Bad Saarow zum Treffen der
Galiziendeutschen aus Machliniec.
Ausführliche erste Fassung von 2019
mit Ergänzungen aus dem gekürzten Vortrag, angefügt am 13.06.2023.
Wir alle wissen bereits, welche
Besonderheiten unsere Volksgruppe auszeichnet. Unsere Vorfahren haben als
Deutsche in Galizien mehr als hundertfünfzig Jahre lang in friedlicher
Koexistenz mit anderen Kulturen gelebt. Aber jetzt kommt noch eine weitere
Besonderheit hinzu. Im 20. Jahrhundert änderten sich die politischen
Verhältnisse. Im Jahre 1939, vor mehr als 80 Jahren, begann eine Wanderschaft
der Galiziendeutschen, die eine Besonderheit darstellt im Vergleich zum
Schicksal der vielen Entwurzelten Menschen im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges.
Wenn Politiker von Flucht und Vertreibung
sprechen, dann meinen sie das schlimme Schicksal der Deutschen am Ende
des Zweiten Weltkrieges als Millionen Deutsche auf Grund einer Vereinbarung der
Siegermächte aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Verschiebung von
Menschenmassen in großem Stil begann aber schon vorher, gleich am Beginn des
Krieges, denn die Diktatoren in Deutschland und in der Sowjetunion hatten im
August 1939 in einem geheimen Zusatzabkommen zum Hitler-Stalinpakt ihre
Einflussgebiete abgegrenzt. Mit der nun folgenden gewaltsamen Änderung der
Staatsgrenzen wurden auch die dort lebenden Menschen in Bewegung versetzt.
Am 1. September 1939 begann Deutschland den
Krieg mit dem Überfall auf Polen. Daran wurde vor kurzem erst mit Feierstunden
in Polen und in Deutschland erinnert. Kaum erwähnt wird aber der zweite Teil
der Aggression, der Einmarsch der Sowjetarmee in Ostpolen am 17. September
1939. Das aber ist besonders für die Polen und für uns Galiziendeutsche
ein wichtiges Ereignis.
Nun bin ich kein Historiker, der einen
genauen Überblick über die Quellenlage hat. Ich kann nur einige, mir zufällig
bekannt gewordene Erinnerungen zitieren, die schon wenige Jahre nach dem Krieg
aufgeschrieben und veröffentlicht wurden. Diese Erinnerungen beschreiben die
Situation und die Erlebnisse der direkt Betroffenen Menschen. Sie sollen
uns helfen zu verstehen, warum unsere Eltern und Grosseltern Haus und Hof
verlassen haben, als sie 1939 freiwillig aus dem sowjetischen Einflussgebiet in
das Deutsche Reich übersiedelten.
Die Situation vor über 80 Jahren, als der
Zweite Weltkrieg begann, ist für uns nach so vielen Jahren des Friedens nicht
einfach zu verstehen. Es ist gut, dass heute andere Maßstäbe gelten, aber wir
sollten bedenken, dass für alle Deutschen damals eine vaterländische Gesinnung
eine ganz normale Haltung war. Das galt ebenso auch für die Einstellung der
Menschen in den meisten anderen Ländern Europas. Die Besonderheit in
Deutschland war aber, dass die Erfolge der deutschen Wehrmacht gegen Polen und
später auch gegen Frankreich als notwendige Vergeltung für den ungerechten Versailler
Vertrag gewertet wurden.
Dass der Erste Weltkrieg
durch einen ungerechten Diktatfrieden beendet wurde, wird von den Historikern
heute nicht mehr bestritten. Welch falsche Machtpolitik durch die
Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg realisiert wurde zeigt sich auch
darin, dass die gleichen Politiker Frankreichs und Englands, die mit dem
Versailler Vertrag Deutschland gedemütigt hatten, damals auch das Osmanische
Reich als Mandatsgebiete unter sich aufgeteilt haben. Das Osmanische Reich war
wie Deutschland Verlierer im Ersten Weltkrieg. In Europa führte der Vertrag von
Versailles in der Konsequenz zum Zweiten Weltkrieg. Im Nahen Osten wurden in
den Mandatsgebieten neue Staaten gegründet. Die willkürliche Grenzziehung
dieser Staaten ist bis heute die Ursache für Gewalt und Krieg in dieser Region.
Nach meinem Eindruck ist
dieser ungerechte Friedensvertrag auch eine Erklärung für das Ausmaß der
„Kollaboration“ der Franzosen mit der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten
Weltkrieg, weil viele Franzosen ein schlechtes Gewissen gegenüber Deutschland
hatten.
Zum Versailler Vertrag
sagte Lenin in seiner Rede beim Kominternkongress
1920[1]:
„Eines der fortgeschrittendsten, gebildetsten,
kultiviertesten Völker wird in koloniale
Abhängigkeit, Elend, Hunger, Ruin und Rechtlosigkeit versetzt, also in
Verhältnisse, unter denen noch kein kultiviertes Volk gelebt hat“.
In Deutschland schien also 1939 nach
dem Sieg über Polen die so genannte „Schmach von Versailles“ getilgt und die Welt
schien wieder in Ordnung zu sein. Von Kriegsverbrechen der Wehrmacht war bis
dahin noch nicht die Rede, weil das ganze Ausmaß des deutschen Terrors in Polen
erst nach dem Krieg bekannt wurde und weil die Vernichtungslager noch gar nicht
existierten. Die Galiziendeutschen übersiedelten also in ein Land, in dem
scheinbar alles seine Ordnung hatte.
Galizien war aber nicht Deutschland, sondern
es war seit 20 Jahren ein Teil Polens. Dort gab es andere Besonderheiten der
Geschichte. Man spricht heute vom Mythos Galizien und meint damit die Zeit, als
das Land ein Teil der Habsburger Monarchie war. Die etwas älteren Deutschen,
die 1939 in Galizien lebten, hatten unter Kaiser Franz-Joseph schon bessere
Zeiten erlebt im Vergleich zu den Erfahrungen, die sie im neu gegründeten
polnischen Staat des Diktators Josef Pilsudski machen mussten. Jetzt lebten sie
in einem Staat, der alles nicht-polnische in der Kulturlandschaft auslöschen
wollte.
Das betraf nicht nur die deutsche Minderheit,
sondern auch die Kultur und Sprache der Ukrainer und Juden im Land. Der
Nationalismus in Polen war damals nicht weniger entwickelt als der
Nationalismus in Deutschland oder anderswo in Europa. Wir werden gleich noch
mehr über diesen Kulturkampf in Polen am Beispiel Wiesenbergs hören.
1939 konnten sich noch viele Menschen in
Galizien an die Besetzung durch russische Truppen im Ersten Weltkrieg erinnern.
Da war es logisch, dass man mit Sorge beobachtete, was im Nachbarland
Sowjetunion für Zustände herrschten.
Das Unrechtssystem der Sowjetunion steigerte
sich zum großen Terror in den Jahren 1937/1938. Die Parteisekretäre hatten
Vorgaben nur für die Anzahl der Erschießungen, ohne Nennung von Namen. In
dieser Zeit fanden in der Sowjetunion 1000 Hinrichtungen pro Tag statt. Auch
war damals bekannt, dass in der Zeit von 1928 bis 1934 mehr als drei Millionen
Ukrainer auf dem Land verhungern mussten, weil auf Befehl Stalins alle Ernten,
einschließlich Saatgut, für die Stadtbevölkerung und für den Export
eingesammelt worden waren. Man spricht in der Ukraine vom „Holodomor“,
das heißt auf deutsch Hungern bis zum Tod! Es war ein Genocid am ukrainischen Volk. Die Hungerkatastrophe in der
Ukraine hatte der bekannte Polarforscher Fritjof Nansen als Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des
Völkerbundes weltweit bekannt gemacht.
Die durch den Hunger entvölkerten Landstriche
in der Ukraine wurden später mit russischern Siedlern aufgefüllt und deren
Nachkommen lassen sich nun für den Krieg im Osten der Ukraine missbrauchen.
Russland hatte demnach schon 1935 seinen Siedlungsraum im Donbass nach Westen
erweitet. Dann kamen kurze Zeit die Galiziendeutschen, um den deutschen Siedlunsraum nach Osten zu
erweitern. Und nun erleben wir grade den Versuch, russischen Siedlingsraum Richtung Westen bis an die Grenze Polens zu
erweitern.
Als die Soldaten der Sowjetarmee 1939 die
Macht in Galizien übernahmen, erlebten die Menschen von einem Tag auf den
anderen nun Furcht und Verzweiflung. Das war die Situation in Osteuropa, als
unsere Eltern und Grosseltern sich entscheiden mussten, in welchem Land sie
zukünftig leben wollen.
Etwa 60.000 Galiziendeutsche sind 1939/1940
freiwillig aus dem sowjetischen Einflussgebiet in das Deutsche Reich
übergesiedelt. Damals waren sie wirklich Umsiedler, sogar mit dem Recht auf
Erstattung ihres zurückgelassenen Eigentums. Das bei der Ansiedlung im
Warthegau auf Kosten der Polen erstattete Eigentum war natürlich am Ende des
Krieges nichts mehr wert. Die Bezeichnung Umsiedler wurde später in der DDR
beschönigend auf alle Vertriebenen angewendet. Den Status eines
Flüchtlings bekamen die Umsiedler aus Galizien zusätzlich, als sie 1945 aus dem
Warthegau vor der Roten Armee flüchten mussten.
Die folgenden Beispiele und Zitate
beschreiben die Umsiedlung aus meiner Sicht, das heißt aus der Sicht eines
Lembergers und sie beziehen sich auch auf die Heimat meiner Eltern, das
deutsche katholische Dorf Wiesenberg im Kreis Żółkiew
nördlich von Lemberg. Der technische Ablauf der Umsiedlung war durch die
deutsch-sowjetischen Verträge vorgegeben und wird deshalb in den meisten
deutschen Siedlungen ähnlich gewesen sein.
In Lemberg fielen am 1. September 1939
vormittags um 11 Uhr deutsche Bomben auf den Bahnhof und auf den
Radiosender im Stadtteil Bogdanówka. Drei Wochen
später, etwa zur gleichen Zeit, als die deutsche Wehrmacht Lemberg erreichte,
besetzte die Rote Armee den östlichen Teil Polens. Die Menschen erlebten nun
die Wirkungen eines neuen Wirtschaftssystems, eines Systems, das wir hier im
Osten Deutschlands gut kennen. Nach der Machtübernahme durch die Russen brach
die Versorgung in Lemberg zusammen und vor den Läden bildeten sich lange
Schlangen. Aber nicht nur die Stadtbevölkerung war in einer ausweglosen
Situation. Grund und Boden wurden sogleich verstaatlicht, denn die neuen
Sowjetbürger, das waren die im Lande lebenden Ukrainer, sollten nun auf
Kolchosen arbeiten. Den freien Bauern in den deutschen Kolonien Galiziens war
damit die Existenzgrundlage entzogen.
Noch deutlicher beschreibt Prof. Erich Müller
im Jahre 1997 die Machtübernahme durch die Sowjetunion in seinen Erinnerungen -
und damit komme ich zu den Tatsachen, die von den Augenzeugen dieser
Ereignisse mit den Worten ihrer Zeit aufgeschriebenen wurden. Ich zitiere:
„Ein furchtbarer Krieg war ausgebrochen und
hatte den polnischen Staat zerschlagen, dessen loyale Bürger die Deutschen
dieses Landes waren. Und danach geschah etwas noch Unvorstellbareres:
Plötzlich trat die Rote Armee in Erscheinung, marschierte in Ostgalizien ein
und okkupierte dieses Land für die Sowjetunion.
Schon deren erste Maßnahmen - Enteignung von
Haus- und Grundbesitz, Ungültigkeits- Erklärung der Zloty-Währung und damit
aller Sparbücher und finanziellen Rücklagen sowie einsetzende Verhaftungen -
stellten alle bisherigen Lebensgrundlagen infrage und wurden von der gesamten
Bevölkerung des Landes als Bedrohung empfunden.
Zukunftsangst erfasste alle Menschen dieses
Landes, nicht nur die deutsche Minderheit, und alle bangten um ihre Sicherheit
und Existenz“. >Ende des Zitats.
Frau Elisabeth Gerbrandt,
geboren in Mierzwica, getauft im Nachbarort
Wiesenberg, erlebte als 10-jährige den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und
der Sowjetarmee in Lemberg. Sie berichtet:
„Eines Tages kamen deutsche Soldaten zu uns
und empfahlen uns, die Stadt zu verlassen und in den Vorort Zimnawoda
(Kaltwasser) zu gehen. Weil die Polen sich nicht ergaben, sollte die Stadt mit
Sturzkampfbombern bombardiert werden. Gleich am Ende unserer Strasse stand ein
Feldwebel, der uns sagte, wie wir aus der Stadt gehen sollten, um nicht unter
Beschuss zu geraten. Wir sind aber nicht bis Kaltwasser gekommen, sondern sind
in Signiówka im Haus meiner Tante geblieben. Drei
Tage lang geschah nichts. Dann fragte meine Mutter bei einer deutschen
Artillerie-Einheit an, die dort an der Hauptstrasse stand, wann die Stadt nun
endlich bombardiert werden sollte. Da antwortete der Soldat, die Stadt werde
nicht bombardiert aber wir sollten schleunigst nach Hause gehen, denn auf der
anderen Seite stünden die Russen.
Zum Glück war aber noch alles in Ordnung, als
wir zu Hause ankamen. Das polnische Militär in der Festung ergab sich den
Russen. Die Deutsche Wehrmacht zog sich in Richtung Westen zurück und einen Tag
lang war kein Militär zu sehen. Aber bevor die Rote Armee die Stadt besetzte,
zog eine Horde von Zuchthäuslern und Gefängnisinsassen durch die Stadt, denn
alle Gefängnisse waren geöffnet worden. Es herrschte Anarchie in Lemberg!“ >Ende des Zitats.
Aus dieser gefährlichen Situation gab es nur
für die deutsche Minderheit einen Ausweg und der hieß „Heim ins Reich“. Das war
eine freiwillige Umsiedlungsaktion für die so genannten Volksdeutschen als
Ergänzung zu dem Hitler-Stalinpakt. Nicht nur fast alle Deutschen meldeten sich
freiwillig, auch Ukrainer und Polen und sogar Juden wollten nach Deutschland
übersiedeln. Das aber erlaubten die deutsch-russischen Verträge nicht.
In Berlin, in dem neuen Museum „Flucht und
Vertreibung“ am Anhalter Bahnhof, wird zur Umsiedlung der Deutschen nach dem Hitler-Stalin-Packt behauptet, dass die SS die Deutschen
zur Ausreise gezwungen hat. Die Museumsbearbeiter haben damit unkritisch die
Meinung der sowjetischen Seite übernommen, die mit der bösen SS einen
Schuldigen brauchte um zu erklären, warum so viele Menschen das sowjetische
Paradies verlassen wollten. Der Schock über die Aussichten in dem Sowjetreich
Stalins leben zu müssen war groß genug, dass ein Zwang zur Umsiedlung gar nicht
notwendig war[2].
Die folgenden Augenzeugenberichte werden das noch
beweisen. Aber der nächste Schock am Ziel der Umsiedlung sollte noch kommen.
Für das neu gewonnene Vaterland Deutschland mussten bald viele junge Männer als
Soldaten in den Krieg gegen Frankreich ziehen. Im Frühjahr 1940, bei der
Ansiedlung der deutschen Bauern auf enteigneten polnischen Bauernhöfen wurde
den Umsiedlern bald klar, an welchem Unrecht sie ahnungslos beteiligt wurden.
Auch in Lodsch, das jetzt in Litzmannstadt umbenannt
war, mussten die umgesiedelten deutschen Stadtbewohner erfahren, dass
ihre Wohnungen vorher von Juden bewohnt waren. Das jüdische Ghetto in
Litzmannstadt war ohnehin nicht zu übersehen. Deshalb war für die Deutschen am
Ende des Krieges die Flucht vor der Roten Armee die einzige Möglichkeit, um den
schlimmen Konsequenzen dieses Unrechts zu entgehen. Nicht alle unserer Eltern
und Großeltern haben den Krieg und 1945 die chaotische Flucht überlebt.
Im Folgenden soll mit Berichten von
Augenzeugen der technische Ablauf der Umsiedlungsaktion erklärt und die
Situation vor und während der Umsiedlung dargestellt werden. Dazu wurde im
Zeitweiser der Galiziendeutschen 1999 ein Aufsatz veröffentlicht, den Sepp
Müller, ein Mitglied der deutschen Umsiedlungskommission, schon 1960
geschrieben hat. Sepp Müller ist übrigens der Vater des vorher zitierten Prof.
Erich Müller, der mit über 90 Jahren in Berlin lebt. Aus dem Bericht von Sepp Müller zitiere ich:
„Ende
November 1939 fuhr der Hauptstab der deutschen Umsiedlungskommission von Berlin
nach Deutsch-Przemysl, dem westlichen Teil der zweigeteilten
Grenzstadt am San, um mit den sowjetischen Grenzbehörden über die mit dem
Grenzübertritt zusammenhängenden Fragen zu verhandeln. Der größere Teil der
Kommission folgte einige Tage später.
Wie groß war aber das Erstaunen, als sie an
Ort und Stelle erfuhren, dass die Verhandlungen mit der sowjetischen Seite sich
nicht vom Fleck rührten, weil diese nicht bereit war, die 400-köpfige deutsche
Kommission ins Land hereinzulassen, obwohl die sowjetische Botschaft in Berlin
jedem Einzelnen das bis zum 1. März 1940 befristete Einreise- und
Aufenthaltsvisum erteilt hatte.
Die Grenzbehörden verlangten vielmehr die
Reduzierung der Zahl der vorgesehenen Ortskommissionen,
der Fahrzeuge und Fahrer usw. und erreichten durch ihre Hartnäckigkeit
schließlich, dass sich der deutsche Stab zuletzt mit rund 300 Mann einverstanden
erklärte, um das Umsiedlungswerk nicht zu gefährden. Offenbar sollte jedes Aufsehen in der Stadt
vermieden werden. Auch etwaige Sympathiekundgebungen der einheimischen
Bevölkerung sollten verhindert werden. Solche Sympathiekundgebungen waren der
deutschen Autokolonne auf dem Wege von Przemysl bis
Lemberg bereits dargebracht worden.
Die Mitarbeiter der sowjetischen
Umsiedlerkommission zeichneten sich durch zwei besonders ins Auge fallende
Merkmale aus: Verständnislosigkeit und tiefes Misstrauen. Sie konnten es
einfach nicht begreifen, warum die Deutschen nach der, wie sie es nannten,
Befreiung von der polnischen Willkür und Unterdrückung aus diesem Land
fortziehen wollten. Manche von ihnen versuchten sogar, einzelne
Kommissionsmitglieder und auch die Umsiedler davon zu überzeugen, dass die
Deutschen in der Sowjetunion, wie das Beispiel der Wolgadeutschen Republik
zeige, volle und ungestörte Entwicklungsmöglichkeiten besäßen. Und man hatte den
Eindruck, dass diese NKWD-Mitarbeiter und Parteifunktionäre wirklich daran
glaubten, was sie sagten.
Dazu meine Anmerkung: Solche Illusionen der
Mächtigen im Kommunismus ermöglichten 1939 die Verträge zur „freiwilligen“
Umsiedlung, weil sie dachten, alle Deutschen würden im sozialistischen
Sowjetreich bleiben. Und noch 1989 hatten die Mächtigen der DDR die Illusion,
dass aus freien Wahlen eine sozalistische DDR
hervorgehen würde. Im gleichen Jahr 1989 hatten allerdings die Chinesen diese
Illusionen nicht. Und von ihnen haben Putin und
Lukaschenko gelernt, wie man seine Macht sichert.
Ich zitiere weiter im Bericht: „Sie waren
daher aufs höchste erstaunt, als sie dann feststellen mussten, dass die
Schlangen vor den Registrierungslokalen der Umsiedlungskommission nicht abreißen
wollten und dass Tausende und Abertausende sich eintragen ließen, und noch mehr
waren sie erstaunt, als sie sahen, dass die Registrierten trotz des inzwischen
eingekehrten Winters mit außerordentlich viel Schnee und Temperaturen bis zu
40 Grad unter Null sich in Trecks und Eisenbahntransporten tatsächlich auf den
Weg nach dem Westen machten“. >Ende
des Zitats.
Cecilia Scheller aus Hamburg, sie stammt aus
einer Familie in Bruckenthal, übergab mir im Jahre
2005 einen von ihr verfassten Bericht, der sehr eindeutig und persönlich die
Ungerechtigkeit der Situation während der Umsiedlung beschreibt, die sie als
10-jährige erlebt hat. Ich zitiere:
„Diese Maschinerie des Schreckens, gesteuert
von Menschen mit einer niederen Gesinnung überrollte im Herbst 1939 das Land
meiner Familie, das Land, in dem ich geboren bin und wo ich zur Schule ging.
Das Land, das uns dort Geborene die eigentliche Heimat war und ist und bleiben
wird. Diese Maschinerie überfiel den geordneten, so sicher erscheinenden
multikulturellen Lebensraum, entwurzelte Millionen Menschen und verpflanzte sie
dorthin, wo sie als willenlose Sklaven den 'Eroberern' gehorchen mussten.
So erging es auch den Galiziern, die sich dem
'deutschen Kulturkreis' angehörig fühlten. Sie mussten es hinnehmen, dass es
bei den Reichsdeutschen mit ihrer Kultur nicht weit her war. Das war eine der
bitteren Enttäuschungen, die die Galizier erfahren mussten, und nicht nur die
deutschstämmigen. – Auch die Ukrainer fühlten sich im wahrsten Sinne des Wortes
betrogen in ihrer Hoffnung auf Beistand von der Reichsdeutschen Regierung.“.
>Ende des Zitats von Cecilia Scheller.
Hier finde ich den Beweis, dass meine Eltern
nicht die Einzigen waren, die im „Großdeutschen Reich“ einen Kulturschock
erlitten.
Die Situation seines Heimatdorfes Wiesenberg
vor der Umsiedlung beschreibt Peter Lang 1969 im Zeitweiser der
Galiziendeutschen. Er berichtet, wie ein deutsches Dorf durch staatliche und
kirchliche Maßnamen zu einem Dorf von Polen umgeformt werden sollte. Ich
zitiere:
„Inzwischen war die Polonisierung
innerhalb der Kirche fortgeschritten. Der Gesang wurde zur Hälfte in deutscher,
zur Hälfte in polnischer Sprache geführt. Die Pfarrer waren fast ausschließlich
polnischer Herkunft, sprachen meistens sehr wenig deutsch und benutzten die
Kirche zur Vorantreibung der Polonisierung. Nur der
letzte vor der Umsiedlung amtierende Pfarrer in Wiesenberg Eduard Wiśniewski war eine Ausnahme. Er sprach ein gutes
Deutsch, lehrte die Kinder deutsche Kinderlieder und bewahrte während des
Krieges die Einwohner vor Repressalien.
Auch auf dem Gebiet der Schule konnte man
wenig optimistisch in die Zukunft blicken. Die deutsche Unterrichtssprache
musste der polnischen bis auf verschwindend kleine Anteile weichen. Die Lehrer
waren angewiesen, die Kinder in polnischem Geiste zu erziehen.
Bis 1934 war die politische
Gemeindeverwaltung in deutsch orientierten Händen. Aber in den nachfolgenden
Jahren wurde der Ortsvorsteher aus der Reihe des polnisch orientierten
Schützenverbandes vom Starosten (Landrat) sozusagen ernannt. Auf Druck dieser
Instanz wurde die Auswahl der Gemeindevertretung durch einen Kompromiss beider
Gruppen vollzogen, wobei schon im Vorhinein der Amtsvorsteher bestimmt war.
Auf diese Weise wurde den Einwohnern von Wiesenberg ihr demokratisches Recht
zur Gemeinderatswahl entzogen.
Andererseits war es das Ziel der deutschen
Volksgruppe, sich ihre deutsche Muttersprache, ihre deutschen Sitten und ihre
deutsche Kultur zu erhalten und zu fördern und auch die gemeinsame
Wirtschaftslage zu verbessern. Diese Politik betrieb sie keineswegs
nationalistisch, sondern erfüllte ihre Pflicht als loyale polnische
Staatsbürger, obgleich die staatlichen Organe ihnen große Schwierigkeiten
bereiteten.
Diese zielbewusste und beharrliche Arbeit
ließ die Volksgruppe zunächst erfolgreich aus diesem Kampf hervorgehen. Einen
großen Anteil an diesem Erfolg hatte auch die Jugend, die in unermüdlichem
Fleiß und Eifer besonders durch Theaterstücke die deutsche Kultur lebendig
erhielt und aus ihren Veranstaltungen einen erheblichen Reingewinn erzielte,
der zur Tilgung der Kosten für Gemeindeeinrichtungen diente.
Bei Tanzveranstaltungen und zu besonderen
Anlässen spielte eine Kapelle, die sich aus Jugendlichen des Dorfes
zusammensetzte. Trotz aller Errungenschaften war es fraglich, ob die deutsche
Volksgruppe dem immer stärker werdenden Druck der polnischen Regierung auf die
Dauer hätte widerstehen können“. Peter Lang schreibt weiter:
„Der Zweite Weltkrieg bereitete der Gemeinde
Wiesenberg ein Ende. Das Dorf wurde in „Czerwony Kamien" (Roter Stein) umbenannt. Vier männliche
Einwohner wurden verhaftet und in das Konzentrationslager Bereza
Kartuska abtransportiert, unter ihnen auch der
Verfasser. In trauriger Erinnerung ist besonders ein polnisches
Polizeiaufgebot, das kurz vor dem polnischen Zusammenbruch das Dorf überfiel,
den größten Teil der Wohnungen verwüstete und die Bevölkerung, gleichgültig
welchen Alters und Geschlechts, Repressalien aussetzte“. (Hier merke ich an:
Der polnische Pfarrer Wiśniewski und der Lehrer
Piotrowski haben durch Verhandlungen die kritische Lage entschärft). „Am 8.
Dezember 1939 traf dann eine deutsch-sowjetrussische Kommission ein, welche
die Umsiedlung der deutschen Bewohner in Wiesenberg leitete. Die Umsiedlung
erfolgte freiwillig; alle Deutschen ließen sich registrieren.
Am 11. Januar 1940 traten Frauen, Kinder,
alte und kranke Leute aus Wiesenberg mit der Eisenbahn die Reise nach
Deutschland an. Zwei Tage später, in der Nacht, rief die Glocke die letzten Einwohner
von Wiesenberg zum Abschied auf. Bei heftigem Schneesturm und sehr strengem
Frost verließen die Männer mit ihren voll beladenen Pferdewagen schweren
Herzens die alte Heimat, um einer ungewissen Zukunft entgegenzufahren. Sie
wurden von den ukrainischen Nachbarn herzlich verabschiedet und nicht selten
flossen Tränen...“
>Ende des Zitats.
Andere Einzelheiten der Umsiedlung beschreibt
Anton Engel (1915-1995, zuletzt in Köln, bekannt als ‚Bruche Tośiu’) in seinen Erinnerungen an Wiesenberg im Zeitweiser
der Galiziendeutschen 1986. Ich zitiere:
„Am 8.12.1939 kam aus Lemberg eine
deutsch-russische Kommission nach Wiesenberg, um alle Deutschen zu erfassen,
samt Hab und Gut. Dazu kamen auch alle Deutschen der umliegenden Dörfer: Mierzwica, Skwarzawa, Macoszyn und Soposzyn. Am
11.01.1940 traten Frauen und Kinder sowie Alte und Kranke in Güterwagen der
Eisenbahn die Reise an. Pfarrer Wiśniewski ging
auch mit.
Wiesenberg war auch die zentrale Sammelstelle
für alle, die mit dem Pferdetreck auf die Reise gingen. Am 12.01.1940 war das
Dorf voller Fuhrwerke. Das Signal zur Abfahrt war das Läuten aller Glocken.
Dieser letzte Klang traf alle tief bis in die Seele: sogar den härtesten
Männern trieb es die Tränen in die Augen.
Die Frauen und Männer wurden von den
ukrainischen Nachbarn herzlich, aber mit Wehmut verabschiedet, wobei viele
Tränen geflossen sind, denn sie wussten, dass ihnen eine schwere Zukunft
bevorstand. >Ende des Zitats.
Dieser letzte Satz von Anton Engel, genauso
wie vorher von Peter Lang, ist ein Hinweis darauf, dass das nachbarschaftliche
Verhältnis zwischen Deutschen, Polen und Ukrainern trotz der staatlich
verordneten Polonisierung bis zuletzt noch immer gut
war - und das wird uns beim Besuch in der Ukraine auch jetzt noch nach 80 Jahren
bestätigt.
Das waren zwei Berichte zum deutschen Dorf
Wiesenberg. In den anderen katholischen Dörfern mag es ganz ähnlich gewesen
sein. Die Umsiedlung aus der Stadt Lemberg beschreibt Elisabeth Gerbrandt recht ausführlich bis hin zu ihrer Ansiedlung in Leipzig,
wo sie mit über 90 Jahren immer noch lebt.
Ich zitiere:
„Nun schickte Hitler auf Grund des Paktes mit
Stalin seine Umsiedlerkommission nach Galizien. Die Deutschen, die „Heim ins
Reich“ wollten, wurden registriert und in verschiedene Transporte aufgeteilt.
In den deutschen Dörfern wurden Trecks zusammengestellt und die Bewohner fuhren
mit Pferd und Wagen in Richtung Westen. Für die Deutschen in den Städten wurden
Güterzüge bereitgestellt. Wir hatten kaum eine Wahl: entweder „Heim ins Reich“
oder nach Sibirien. Das war eine Befürchtung, die durch die Schicksale von
zurückgebliebenen Deutschen bald bestätigt werden sollte.
Unser Transport ging am 8. Januar 1940 bei
minus 35 Grad Kälte vom Güterbahnhof Lemberg ab. Der Nachfolger in unserem
Haus, das wir erst seit eineinhalb Jahren bewohnten, Herr Nowicki,
half uns das Gepäck zum Bahnhof zu bringen. Er war auch ein Eisenbahner wie
mein Vater.
Auf dem Güterbahnhof suchten die Männer nach
Holz oder Kohle, um die Eisenöfen, die in der Mitte der Güterwagen standen, zu
beheizen. Aber es war trotzdem so kalt, dass an den Außenwänden des Waggons das
Brot und die Äpfel gefroren waren, während man sich innen fast die Knie am Ofen
verbrannte. In der Nacht kamen wir mit unserem Transport über die Brücke des Flusses
San bis Przemyśł. Es war eine holprige
Fahrt mit Rütteln und Schütteln und vielen Standpausen auf der kurzen Strecke
von 85 km.
In Przemyśł
wurden wir in einer Kaserne untergebracht und von der Deutschen Wehrmacht mit
Essen aus einer Gulaschkanone versorgt. Ein Personenzug brachte uns bald bis Pabianice bei Łódz. Dort
hatten wir Nachtquartier in einem Schaf- oder Ziegenstall. Es hat gestunken und
man wollte nicht glauben, dass man uns Deutsche so in Deutschland aufnimmt.
Aber es änderte sich nichts. Als Zehnjährige habe ich auf unserem großen Korb
gut geschlafen, aber die Erwachsenen haben sich bestimmt nicht in das Stroh
schlafen gelegt.
Am nächsten Tag ging es zur Entlausung. Es
war eine höchst unangenehme und peinliche Angelegenheit. In einem Raum mussten
die Kleider und die Unterwäsche ausgezogen werden, dann ging es unter die
Dusche. Ich merkte, dass es meiner Mutter peinlich war. Nach dem Bad gingen wir
in den Trockenraum und dann zu unserer „entlausten“ Garderobe. Man brachte uns
dann in eine saubere Tuchfabrik nach Łódz. Dort
blieben wir etwa vierzehn Tage und bekamen am 19. Januar 1940 die
Einbürgerungsurkunde. Von Łódz aus ging der
Transport nach Böhmisch Leipa (Ceska
Lipa). In der großen Tuchfabrik waren zwei
Fabrikhallen als Schlafräume eingerichtet worden.
Der Raum im ersten Stock
war mit Doppelstockbetten ausgestattet, im zweiten Stock gab es eine einfache
Bettenreihe. Dadurch gab es mehr Licht und Sonne in dem Raum. Es schliefen etwa
zehn Personen in einer Reihe. Neben mir in der Reihe lag ein Herr Partyka, dann schlief meine Mutter, daneben mein Vater und
wahrscheinlich weiter ein Mann und so setzte sich die Reihe fort.
Man musste sich schließlich an das Lagerleben
gewöhnen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Ich habe aus festem Papier,
das ich in der Fabrik gefunden habe, Spielkarten gemalt und ausgeschnitten und
die Kinder zum Spielen eingeladen, um überhaupt etwas Beschäftigung zu haben.
Später bekamen wir von einem alten Lehrer, dem Rentner Herr Neumann, 2 bis 3
Stunden Unterricht in Deutsch. Es musste zuerst die gotische Schrift gelernt
und geübt werden. Später gab es im Lager eine Kindergärtnerin, Schwester Hilde,
die uns beschäftigte, uns deutsche Lieder beibrachte und mit uns im Ort
spazieren ging.
Wir blieben ein halbes Jahr in dem Lager in
Böhmisch Leipa. Dann ging der Transport weiter nach
Oderberg (Novy Bohumin).
Nach etwa vierzehn Tagen ging es weiter in ein Lager in Leipzig. Wir wurden in
einer Schule in der Elsässer Strasse untergebracht. Dort durfte ich dann den
Unterricht besuchen und zwar in der Schule in der Alexanderstrasse. Von der
vierten Klasse der polnischen Schule kam ich in die fünfte Klasse der deutschen
Schule und doch war ich ein Jahr älter als die deutschen Schüler, da wir in
Lemberg erst mit sieben Jahren in die Schule aufgenommen wurden“. >Ende des
Zitats. –
Das eben war ein Hinweis auf die Situation
der schulpflichtigen Kinder, die durch die Umsiedlung nicht nur das
Schulsystem, sondern meistens auch die Unterrichtssprache wechseln mussten.
Besonders informativ und eindrucksvoll sind
die Tagebuchaufzeichnungen von Dr. Hans Koch über die Umsiedlung der Deutschen
aus Ostgalizien, veröffentlicht im Heimatbuch der Galiziendeutschen 1977. Ich
zitiere zunächst aus dem Vorwort:
„Universitätsprofessor Dr. Hans Koch, von uns
einfach Dr. Koch genannt, war Stellvertreter des Lemberger Gebietsbevollmächtigten
und Chefdolmetscher der deutschen Umsiedlerkommission. Es bestand aber kein
Zweifel: er war die Seele des ganzen Umsiedlungswerks, ihr Mittelpunkt auch über
das Lemberger Gebiet hinaus. Genaue Kenntnis der Ethnographie und Geschichte
Galiziens, einschließlich der deutschen Siedlungen, die Beherrschung der
ostslawischen Sprachen, die Vertrautheit mit der Mentalität seiner Landsleute
und ihrer slawischen Umwohner, auch der Russen, und die ihm eigene souveräne
Ruhe in der Behandlung schwieriger Fälle, wie sie bei der Umsiedlung zu
erwarten waren, befähigen ihn in hohem Grade für sein schwieriges Amt“.
In den stichwortartigen Tagebuchnotizen
benennt Hans Koch sich selbst in der dritten Person als Dr. Koch. Aus diesen
Notizen habe ich einige Kapitel herausgesucht, die vor Allem das deutsche Dorf
Wiesenberg betreffen. Die Zeitangaben „Osteuropäische Zeit“ sind
ein Hinweis auf die Umstellung auf die um zwei Stunden unterschiedliche
Moskauer Zeit durch die russischen Behörden. Die Moskauer Zeit mit Sonnenschein
um Mitternacht gab es übrigens auch bei uns im russisch besetzten
Mitteldeutschland kurz nach dem Krieg.
Ich zitiere:
„Am 9.12.1939 um 2 Uhr früh Osteuropäischer
Zeit: Eintreffen des Sonderzuges der Umsiedlungskommission in Lemberg. Der
Bahnhof ist kalt, düster, streng und abgeschlossen. Vor dem Bahnhof warten
Sowjetkraftwagen, darunter ein LKW für das Gepäck. Nach längerer Irrfahrt durch
die menschenleere, zum Teil zerschossene Stadt (gemeint ist die Elisabethkirche
am Bahnhof), landet der Stab vor einer Villa der Stryjer
Vorstadt und wird einquartiert.
12.12.1939 - also drei Tage später.
Plötzlich kam der erste Stoss von Besuchern. Vormittags
standen auf einmal Gruppen von Menschen vor unserem Haus und begehrten Einlass.
Die Sowjetwache versuchte zu bremsen, zu notieren, auszusondern, aber sie hielt
den Stoss einfach nicht durch und musste die Menschen, mit denen sie sich
obendrein nicht verständigen konnte, schließlich auf uns abwälzen. Es kam
allerlei Volk: Polen, Ukrainer, der holländische Konsul, Juden und ein
Franzose; alle wollen weg, nur weg.
Im Laufe des Nachmittags ebbte der Strom ab.
Aber gleichzeitig kam unser Anschluss an das öffentliche Telefonnetz zustande,
und nun rissen die Gespräche nicht ab. Stryj, Unterwalden,
Josefòw usw. meldeten sich kunterbunt, gewöhnlich
beide Vertreter zusammen, und wurden von Dr. Koch gleichermaßen in deutscher,
ukrainischer und russischer Sprache bedient.
Der für den 10. 1. früh fällig gewesene
Transport Nr. 67 ab Rawa Ruska-Żòlkiew
ist um 15.00 Uhr Osteuropäischer Zeit noch immer nicht gestellt. Die Umsiedler
frieren im Freien bei minus 30°. Aus Rawa Ruska wird ein Toter durch Erfrierung gemeldet.
10.1.1940 – das ist Mitte Januar, als die
Umsiedlung in vollem Gange war.
Der Zug Wiesenberg - Żòlkiew,
fällig am 10.1., hat bis 11.1. noch immer keine Waggons; Die Einquartierung der
Umsiedler wurde notdürftig in ungeheizten Räumen veranlasst; Der
Sowjetvertreter in Rawa Ruska
ist besonders hilfsbereit, scheitert freilich an technischen Schwierigkeiten.
Die Güterwagen Rawa Ruska
wurden um 12.00 Uhr OEZ gestellt, aber ungereinigt - wenigstens Heizmaterial
ist vorhanden.
Gerüchteweise verlautet, dass die Lemberger
Eisenbahndirektion wegen angeblichen Waggonmangels alle Evakuierungstransporte
vorübergehend einzustellen gedenkt.
12.1.1940
Der Treck Wiesenberg (das sind die Männer mit
den Fuhrwerken) verzögert seinen Ausmarsch infolge lästiger Kontrollmaßnahmen
örtlicher Miliz und des russischen Ortsbevollmächtigten. Die Intervention des
deutschen Lemberger Gebietsstabes an Ort und Stelle am 12. 1. bleibt
erfolglos. Sollte der Ausmarsch am 13.1. noch freigegeben werden, so wird der
Treck versuchen, bis Abend Kaltwasser zu erreichen.
Als Randnotiz: Merkliches Nachlassen der
Fröste; größere Schneefälle, Schneetreiben und Verwehungen.
13./14.1.1940
Der Treck Unterwalden passierte am 14.1.
mittags die Stadt Lemberg und erreichte um 15.00 Uhr OEZ Kaltwasser. Infolge
der gestrigen Verzögerung durch sowjetische Kontrollen kam der Treck Wiesenberg
nach Sammlung in Kulikow am 14. 1. erst mittags durch Lemberg und stieß auf
Höhe von Kaltwasser auf den rastenden Treck Unterwalden.
Da die Wiesenberger
Pferde angesichts neuer Schneeverwehungen und überstandener Marschleistung zum
Weitermarsch zu müde waren, wurde der Treck Unterwalden sofort aus Kaltwasser
nach Gròdek vorgeschickt, während der Treck
Wiesenberg im Raume Kaltwasser übernachtet.
Seit mehreren Tagen streichen Sowjets
aufgrund angeblicher höherer Befehle stets unmittelbar vor Abmarsch die
mitzunehmenden und beiderseits bereits registrierten Landarbeiter[3]
plötzlich aus den Listen und verlangen stets eine nachträgliche Genehmigung
durch den deutschen Ortsbevollmächtigten; das wird deutscherseits
befehlsgemäß stets abgelehnt, so auch in Unterwalden und in Wiesenberg“. Ende
des Zitats.
Dazu eine Anmerkung von mir zur Dauer der
Transporte: Der Treck der Fuhrwerke aus Wiesenberg war demnach vom 13. bis 15.
Januar 1940 unterwegs, das sind 3 Tage. Zum Eisenbahntransport der Frauen und
Kinder aus Wiesenberg berichten Peter Lang und Sigmund Kolmer,
dass Frauen und Kinder 2 Tage vor Abfahrt des Trecks der Fuhrwerke mit den so
genannten Viehwaggongs der Eisenbahn abtransportiert wurden. Der Transport kam aber erst zwei Tage nach dem
Treck in Przemysl an. Demnach waren die Frauen und
Kinder aus Wiesenberg wegen der russischen Kontrollen und Schikanen 7 Tage lang
bei strengem Frost mit der Eisenbahn unterwegs auf einer Strecke von maximal
100 km.
Als eine Art Abschlussnotiz schreibt Hans
Koch Ende Januar:
„Die Verluste an Toten und Kranken sind doch
größer, als wir es nach den anfänglichen Meldungen geglaubt hätten. In Przemysl allein sind bisher 30 Umsiedler begraben, zumeist
ältere Menschen. Wie mir unsere Kraftfahrer berichten, waren die Begräbnisse
sehr unfeierlich, das Gefolge oft nur aus einer zufällig anwesenden
Krankenschwester bestehend, ohne jeden geistlichen Beistand. Aus Krakau werden
ebenfalls Todesfälle gemeldet.
Ein bitteres Kapitel bildet das Schicksal der
150 Gefangenen unseres Gebietes. Seit 6 Wochen bestürmen wir die Sowjets, um
die vertragsgemäße Freigabe dieser Männer und Frauen zu erreichen. Täglich
standen weinende Familienangehörige vor unseren Büros. Jetzt sind auch sie
weniger geworden; die meisten haben resigniert und sind abgereist. –
Von den 150 Gefangenen haben am Ende nur 3
die Freiheit erlangt!“
>Ende des Zitats.
Nach diesen Tagebuchaufzeichnungen soll als
eine Art Schlusswort noch ein Zitat aus einem Artikel von Sepp Müller folgen,
der als Mitglied der Umsiedlerkommission den Abschlussgottesdienst in der
evangelischen Kirche in Lemberg erlebt hat.
Ich zitiere:
„Selten war diese Kirche so überfüllt, wie an
diesem ersten Weihnachtstag 1939, als unter den Deutschen der Stadt durch
Benachrichtigung von Mund zu Mund bekannt geworden war, dass Professor Koch den
Gottesdienst und die Predigt halten werde. Deutsche Protestanten und
Katholiken füllten das Gotteshaus bis zum Rand und erlebten eine der
eindrucksvollsten gottesdienstlichen Handlungen und eine der ergreifendsten Predigten, die jemals hier gehalten wurden.
Hans Koch, Kind dieser deutschen
evangelischen Gemeinde, in dieser Kirche getauft und konfirmiert, ehemaliger
Schüler der deutsch-evangelischen Schule und des deutschen Staatsgymnasiums
der Stadt, nahm für seine Landsleute und für sich Abschied von der Kirche, der
Gemeinde, der Stadt und dem Land, die von mehreren deutschen Generationen
unter harten Entbehrungen und großen Opfern, aber mit umso mehr Liebe und Fleiß
geschaffen und ausgestaltet worden waren. Er nahm Abschied für immer und
erflehte Gottes Segen für die Zukunft“.
Zwei Wochen später aber, bei der Feier des
Heiligen Abends für die Mitglieder des Gebietsstabes,
beschloss Hans Koch seine Ansprache mit den Worten:
„Wir sind die Totengräber eines 160-jährigen
Volksgruppenlebens und seiner Kulturschöpfungen. Aber wir wollen hoffen, dass
wir gleichzeitig Wegbereiter einer besseren Zukunft für Zehntausende von
Getreuen sind“.
Das schreibt Sepp Müller über die letzten
Tage der Deutschen in Lemberg.
Mit diesen
Abschiedsworten schließe ich das Kapitel der Umsiedlung der Galiziendeutschen
1939/1940. Ich persönlich und wir alle haben unseren Eltern und ihrer ganzen
Generation zu danken für ihre Entscheidung, den Weg nach Deutschland zu wählen
- und wie wir jetzt wissen, war es auch der Weg in ein freies Europa.
[1] Manfred Scheuch: Historischer Atlas Deutschland, Seite 99, Weltbild Verlag GmbH Augsburg 2000
[2] Am 4.6.2023 wurde dieser Vortrag mit Kennzeichnung der das Museum
betreffenden Sätze einer Mitarbeiterin des Museums von W. Kraus übergeben.
[3] Mit
den Landarbeitern sind offenbar ukrainische und polnische Hilfskräfte gemeint, damals
als Knechte bezeichnet, die für den Neuanfang im Warthegau gebraucht wurden.