Die Umsiedlung der Galiziendeutschen 1940 und ihre Flucht 1945

 

Vortrag von W. Kraus zum 21. Galiziertreffen in Kütten bei Halle am 28.09.2019 über die Umsiedlung der Galiziendeutschen 1940. 

Erschien im Juli 2020 im „Galizien German Descendants newsletter“ (corcoranmary01@gmail.com 22.03.2020),

redigiert von Mary Johnson Corcoran aus Polson, Montana, USA mit Wurzeln in der Familie Defee aus Bruckenthal/Galizien.

Stark gekürzt als Vortrag am 3. Juni 2023 in Bad Saarow zum Treffen der Galiziendeutschen aus Machliniec.

Am 4.6.2023 wurde dieser Vortrag einer Mitarbeiterin des Museums für Vertreibung in Berlin von W. Kraus übergeben.

Ausführliche erste Fassung von 2019 mit Ergänzungen, angefügt am 13.06.2023. Erklärung einiger Begriffe für junge Leute: 17.11.2024.

Fünf Jahre nach der Umsiedlung kam es noch schlimmer. Ein Bericht über die Flucht 1945 vor der Roten Armee gehört unbedingt dazu.

 

Gerade in diesen Tagen im September 2019 gibt es einen besonderen Anlass, uns zu erinnern. Es sind jetzt genau 80 Jahre vergangen, seit der Umsiedlung der Galiziendeutschen am Ende des Jahres 1939. Ich gehe davon aus, dass die meisten von Ihnen die Umsiedlung nicht erlebt haben und gar nicht mehr in Galizien geboren sind. Warum fühlen sich die Spätgeborenen dennoch zugehörig zur Gemeinschaft der Galiziendeutschen?

Wir alle wissen bereits, welche Besonderheiten unsere Volksgruppe auszeichnet. Unsere Vorfahren haben als Deutsche mehr als hundertfünfzig Jahre lang in friedlicher Koexistenz mit anderen Kulturen gelebt. Aber jetzt kommt noch eine weitere Besonderheit hinzu: Vor nunmehr 80 Jahren begann eine Wanderschaft der Galiziendeutschen, die eine Besonderheit darstellt im Vergleich zum Schicksal der vielen Entwurzelten Menschen im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges.

Wenn Politiker von Flucht und Vertreibung sprechen, dann meinen sie das schlimme Schicksal der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges, als Millionen Deutsche auf Grund einer Vereinbarung der Siegermächte aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Verschiebung von Menschenmassen in großem Stil begann aber schon vorher, gleich am Beginn des Krieges, denn die Diktatoren in Deutschland und in der Sowjetunion hatten im August 1939 in einem geheimen Zusatzabkommen zum Hitler-Stalinpakt ihre Einflussgebiete abgegrenzt. Mit der nun folgenden gewaltsamen Änderung der Staatsgrenzen wurden auch die dort lebenden Menschen in Bewegung versetzt.

Am 1. September 1939 begann Deutschland den Krieg mit dem Überfall auf Polen. Daran wurde vor kurzem erst mit Feierstunden in Polen und in Deutschland erinnert. Kaum erwähnt wird aber der zweite Teil der Aggression, der Einmarsch der Sowjetarmee in Ostpolen am 17. September 1939. Das aber ist besonders für die Polen und für uns Galiziendeutsche ein wichtiges Ereignis.

Nun bin ich kein Historiker, der einen genauen Überblick über die Quellenlage hat. Ich kann nur einige, mir zufällig bekannt gewordene Erinnerungen zitieren, die schon wenige Jahre nach dem Krieg aufgeschrieben und veröffentlicht wurden. Diese Erinnerungen beschreiben die Situation und die Erlebnisse der direkt Betroffenen Menschen. Sie sollen uns helfen zu verstehen, warum unsere Eltern und Grosseltern Haus und Hof verlassen haben, als sie 1939 freiwillig aus dem sowjetischen Einflussgebiet in das Deutsche Reich übersiedelten.

Die Situation vor über 80 Jahren, als der Zweite Weltkrieg begann, ist für uns nach so vielen Jahren des Friedens nicht einfach zu verstehen. Es ist gut, dass heute andere Maßstäbe gelten, aber wir sollten bedenken, dass für alle Deutschen damals eine vaterländische Gesinnung eine ganz normale Haltung war. Das galt ebenso auch in den meisten anderen Ländern Europas. Die Besonderheit in Deutschland war aber, dass die Erfolge der deutschen Wehrmacht gegen Polen und später auch gegen Frankreich als notwendige Vergeltung für den ungerechten Versailler Vertrag gewertet wurden, wo Deutschland Gebiete an Polen und Frankreich abtreten musste.

Dass der Erste Weltkrieg durch einen ungerechten Diktatfrieden beendet wurde, wird von den Historikern heute nicht mehr bestritten. Welch falsche Machtpolitik durch die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg realisiert wurde zeigt sich auch darin, dass die gleichen Politiker Frankreichs und Englands, die mit dem Versailler Vertrag Deutschland gedemütigt hatten, damals auch das Osmanische Reich als Mandatsgebiete unter sich aufgeteilt haben. Das Osmanische Reich war wie Deutschland Verlierer im Ersten Weltkrieg. In Europa führte der Vertrag von Versailles in der Konsequenz zum Zweiten Weltkrieg. Im Nahen Osten wurden in den Mandatsgebieten neue Staaten gegründet. Die willkürliche Grenzziehung dieser Staaten ist bis heute die Ursache für Gewalt und Krieg in dieser Region.

Nach meinem Eindruck ist dieser ungerechte Friedensvertrag auch eine Erklärung für das Ausmaß der „Kollaboration“ der Franzosen mit der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg, weil viele Franzosen ein schlechtes Gewissen gegenüber Deutschland hatten.

Zum Versailler Vertrag sagte Lenin in seiner Rede beim Kominternkongress 1920[1]: „Eines der fortgeschrittendsten, gebildetsten, kultiviertesten Völker wird in koloniale Abhängigkeit, Elend, Hunger, Ruin und Rechtlosigkeit versetzt, also in Verhältnisse, unter denen noch kein kultiviertes Volk gelebt hat“.

In Deutschland schien also 1939, kurz nach dem Sieg über Polen, die so genannte „Schmach von Versailles“ getilgt und die Welt schien wieder in Ordnung zu sein. Von Kriegsverbrechen der Wehrmacht war bis dahin noch nicht die Rede, weil das ganze Ausmaß des deutschen Terrors in Polen erst nach dem Krieg bekannt wurde und weil die Vernichtungslager noch gar nicht existierten. Die Galiziendeutschen übersiedelten also in ein Land, in dem scheinbar alles seine Ordnung hatte.

Galizien war aber nicht Deutschland, sondern es war seit 20 Jahren ein Teil Polens. Dort gab es andere Besonderheiten der Geschichte. Man spricht heute vom Mythos Galizien und meint damit die Zeit, als das Land ein Teil der Habsburger Monarchie war. Die etwas älteren Deutschen, die 1939 in Galizien lebten, hatten unter Kaiser Franz-Joseph schon bessere Zeiten erlebt im Vergleich zu den Erfahrungen, die sie im neu gegründeten polnischen Staat des Diktators Josef Pilsudski machen mussten. Jetzt lebten sie in einem Staat, der alles nicht-polnische in der Kulturlandschaft auslöschen wollte.

Das betraf nicht nur die deutsche Minderheit, sondern auch die Kultur und Sprache der Ukrainer und Juden im Land. Der Nationalismus in Polen war damals nicht weniger entwickelt als der Nationalismus in Deutschland oder anderswo in Europa. Wir werden gleich noch mehr über diesen Kulturkampf in Polen am Beispiel Wiesenbergs hören.

 

1939 konnten sich noch viele Menschen in Galizien an die Besetzung durch gewalttätige russische Truppen im Ersten Weltkrieg erinnern. Da war es logisch, dass man mit Sorge beobachtete, was im Nachbarland Sowjetunion für Zustände herrschten.

Das Unrechtssystem der Sowjetunion steigerte sich zum großen Terror in den Jahren 1937/1938. Die Parteisekretäre hatten Vorgaben nur für die Anzahl der Erschießungen, ohne Nennung von Namen. In dieser Zeit fanden in der Sowjetunion 1000 Hinrichtungen pro Tag statt. Auch war damals bekannt, dass in der Zeit von 1928 bis 1934 mehr als drei Millionen Ukrainer auf dem Land verhungern mussten, weil auf Befehl Stalins alle Ernten, einschließlich Saatgut, für die Stadtbevölkerung und für den Export eingesammelt worden waren. Man spricht in der Ukraine vom „Holodomor“, das heißt auf deutsch Hungern bis zum Tod! Es war ein Genocid am ukrainischen Volk. Die Hungerkatastrophe in der Ukraine hatte der bekannte Polarforscher Fritjof Nansen als Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes weltweit bekannt gemacht.

Die durch den Hunger entvölkerten Landstriche in der Ukraine wurden später mit russischern Siedlern aufgefüllt und deren Nachkommen lassen sich nun für den Krieg im Osten der Ukraine missbrauchen. Russland hatte demnach schon 1935 seinen Siedlungsraum im Donbass nach Westen erweitet. Dann kamen kurze Zeit die Galiziendeutschen, um den deutschen Siedlungsraum Richtung Osten durch die Besiedlung des Warthegaus erweitern. Und nun erleben wir grade den Versuch, russischen Siedlungsraum in Richtung Westen bis an die Grenze Polens zu erweitern.

Als die Soldaten der Sowjetarmee 1939 die Macht in Galizien übernahmen, erlebten die Menschen von einem Tag auf den anderen nun Furcht und Verzweiflung und wirtschaftlichen Zusammenbruch. Das war die Situation in Osteuropa, als unsere Eltern und Grosseltern sich entscheiden mussten, in welchem Land sie zukünftig leben wollen.

 

Etwa 60.000 Galiziendeutsche sind 1939/1940 freiwillig aus dem sowjetischen Einflussgebiet in das Deutsche Reich übergesiedelt. Damals waren sie wirklich Umsiedler, sogar mit dem Recht auf Erstattung ihres zurückgelassenen Eigentums. Das bei der Ansiedlung im Warthegau auf Kosten der Polen erstattete Eigentum war natürlich am Ende des Krieges nichts mehr wert. Die Bezeichnung Umsiedler wurde später in der DDR beschönigend auf alle Vertriebenen angewendet. Den Status eines Flüchtlings bekamen die Umsiedler aus Galizien zusätzlich, als sie 1945 aus dem Warthegau mit Pferd und Wagen vor der Roten Armee flüchten mussten, was nicht allen gelang.

 

Die folgenden Beispiele und Zitate beschreiben die Umsiedlung aus meiner Sicht, das heißt aus der Sicht eines Lembergers und sie beziehen sich auch auf die Heimat meiner Eltern, das deutsche katholische Dorf Wiesenberg im Kreis Żółkiew nördlich von Lemberg. Der technische Ablauf der Umsiedlung war durch die deutsch-sowjetischen Verträge vorgegeben und wird deshalb in den meisten deutschen Siedlungen ähnlich gewesen sein.

In Lemberg fielen am 1. September 1939 vormittags um 11 Uhr deutsche Bomben auf den Bahnhof und auf den Radiosender im Stadtteil Bogdanówka. Drei Wochen später, etwa zur gleichen Zeit, als die deutsche Wehrmacht unter General Schörner Lemberg erreichte, besetzte die Rote Armee den östlichen Teil Polens. Die Menschen erlebten nun die Wirkungen eines neuen Wirtschaftssystems, eines Systems, das wir hier im Osten Deutschlands gut kennen. Nach der Machtübernahme durch die Russen brach die Versorgung in Lemberg zusammen und vor den Läden bildeten sich lange Schlangen. Aber nicht nur die Stadtbevölkerung war in einer ausweglosen Situation. Grund und Boden wurden sogleich verstaatlicht, denn die neuen Sowjetbürger, das waren die im Lande lebenden Ukrainer, sollten nun auf Kolchosen arbeiten. Den freien Bauern in den deutschen Kolonien Galiziens und vielen anderen Menschen war damit die Existenzgrundlage entzogen.

 

Noch deutlicher beschreibt Prof. Erich Müller im Jahre 1997 die Machtübernahme durch die Sowjetunion in seinen Erinnerungen - und damit komme ich zu den Tatsachen, die von den Augenzeugen dieser Ereignisse mit den Worten ihrer Zeit aufgeschriebenen wurden. Ich zitiere:

„Ein furchtbarer Krieg war ausgebrochen und hatte den polnischen Staat zerschlagen, dessen loyale Bürger die Deutschen dieses Landes waren. Und danach geschah et­was noch Unvorstellbareres: Plötzlich trat die Rote Armee in Erscheinung, mar­schierte in Ostgalizien ein und okkupierte dieses Land für die Sowjetunion.

Schon deren erste Maßnahmen - Enteignung von Haus- und Grundbesitz, Ungültigkeits- Erklärung der Zloty-Währung und damit aller Sparbücher und finanziellen Rücklagen sowie einsetzende Verhaftungen - stellten alle bisherigen Lebensgrundlagen infrage und wurden von der gesamten Bevölkerung des Landes als Bedrohung empfunden.

Zukunftsangst erfasste alle Menschen dieses Landes, nicht nur die deutsche Minder­heit, und alle bangten um ihre Sicherheit und Existenz“.  >Ende des Zitats.

 

Frau Elisabeth Gerbrandt, geboren in Mierzwica, getauft im Nachbarort Wiesenberg, erlebte als zehnjährige den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und der Sowjetarmee in Lemberg. Sie berichtet:

„Eines Tages kamen deutsche Soldaten zu uns und empfahlen uns, die Stadt zu verlassen und in den Vorort Zimnawoda (Kaltwasser) zu gehen. Weil die Polen sich nicht ergaben, sollte die Stadt mit Sturzkampfbombern bombardiert werden. Gleich am Ende unserer Strasse stand ein Feldwebel, der uns sagte, wie wir aus der Stadt gehen sollten, um nicht unter Beschuss zu geraten. Wir sind aber nicht bis Kaltwasser gekommen, sondern sind in Signiówka im Haus meiner Tante geblieben. Drei Tage lang geschah nichts. Dann fragte meine Mutter bei einer deutschen Artillerie-Einheit an, die dort an der Hauptstrasse stand, wann die Stadt nun endlich bombardiert werden sollte. Da antwortete der Soldat, die Stadt werde nicht bombardiert aber wir sollten schleunigst nach Hause gehen, denn auf der anderen Seite stünden die Russen.

Zum Glück war aber noch alles in Ordnung, als wir zu Hause ankamen. Das polnische Militär in der Festung ergab sich den Russen. Die Deutsche Wehrmacht zog sich in Richtung Westen zurück und einen Tag lang war kein Militär zu sehen. Aber bevor die Rote Armee die Stadt besetzte, zog eine Horde von Zuchthäuslern und Gefängnisinsassen durch die Stadt, denn alle Gefängnisse waren geöffnet worden. Es herrschte Anarchie in Lemberg!“  >Ende des Zitats.

Aus dieser gefährlichen Situation gab es nur für die deutsche Minderheit einen Ausweg und der hieß „Heim ins Reich“. Das war eine freiwillige Umsiedlungsaktion für die so genannten Volksdeutschen als Ergänzung zu dem Hitler-Stalinpakt. Nicht nur fast alle Deutschen meldeten sich freiwillig, auch Ukrainer und Polen und sogar Juden wollten nach Deutschland übersiedeln. Das aber erlaubten die deutsch-russischen Verträge nicht.

In Berlin, in dem neuen Museum „Flucht und Vertreibung“ am Anhalter Bahnhof, wird zur Umsiedlung der Deutschen nach dem Hitler-Stalin-Packt behauptet, dass die SS die Deutschen zur Ausreise gezwungen hat. Die Museumsbearbeiter haben damit unkritisch die Meinung der sowjetischen Seite übernommen, die mit der bösen SS einen Schuldigen brauchte um zu erklären, warum so viele Menschen das sowjetische Paradies verlassen wollten. Der Schock über die Aussichten in dem Sowjetreich Stalins leben zu müssen war groß genug, dass ein Zwang zur Umsiedlung gar nicht notwendig war[2]. Vielmehr wollten auch Ukrainer und Juden! „heim ins Reich“.

Die folgenden Augenzeugenberichte werden das noch beweisen. Aber der nächste Schock am Ziel der Umsiedlung sollte noch kommen. Für das neu gewonnene Vaterland Deutschland mussten bald viele junge Männer als Soldaten in den Krieg gegen Frankreich ziehen. Im Frühjahr 1940, bei der Ansiedlung der deutschen Bauern auf enteigneten polnischen Bauernhöfen wurde den Umsiedlern bald klar, an welchem Unrecht sie ahnungslos beteiligt wurden. Auch in Lodsch, das jetzt in Litzmannstadt umbenannt war, mussten die umgesiedelten deutschen Stadtbewohner erfahren, dass ihre Wohnungen vorher von Juden bewohnt waren. Das jüdische Ghetto in Litzmannstadt war ohnehin nicht zu übersehen. Deshalb war für die Deutschen am Ende des Krieges die Flucht vor der Roten Armee die einzige Möglichkeit, um den schlimmen Konsequenzen dieses Unrechts zu entgehen. Nicht alle unserer Eltern und Großeltern haben den Krieg und 1945 die chaotische Flucht überlebt.

 

Im Folgenden soll mit Berichten von Augenzeugen der technische Ablauf der Umsiedlungsaktion erklärt und die Situation vor und während der Umsiedlung dargestellt werden. Dazu wurde im Zeitweiser der Galiziendeutschen 1999 ein Aufsatz veröffentlicht, den Sepp Müller, ein Mitglied der deutschen Umsiedlungskommission, schon 1960 geschrieben hat. Sepp Müller ist übrigens der Vater des vorher zitierten Prof. Erich Müller, der mit über 90 Jahren in Berlin lebt.  Aus dem Bericht von Sepp Müller zitiere ich:

 „Ende November 1939 fuhr der Hauptstab der deutschen Umsiedlungskommission von Berlin nach Deutsch-Przemysł, dem westlichen Teil der zweige­teilten Grenzstadt am San, um mit den sowjetischen Grenzbehörden über die mit dem Grenzübertritt zusammenhängenden Fragen zu verhandeln. Der größere Teil der Kommission folgte einige Tage später.

Wie groß war aber das Erstaunen, als sie an Ort und Stelle erfuhren, dass die Verhandlungen mit der sowjetischen Seite sich nicht vom Fleck rührten, weil diese nicht be­reit war, die 400-köpfige deutsche Kommission ins Land hereinzulassen, obwohl die sowjeti­sche Botschaft in Berlin jedem Einzelnen das bis zum 1. März 1940 befristete Einreise- und Aufenthaltsvisum erteilt hatte.

Die Grenzbehörden verlangten vielmehr die Reduzierung der Zahl der vorgesehenen Ortskommissionen, der Fahrzeuge und Fahrer usw. und erreichten durch ihre Hartnäckigkeit schließlich, dass sich der deutsche Stab zuletzt mit rund 300 Mann einverstan­den erklärte, um das Umsiedlungswerk nicht zu gefährden.  Offenbar sollte jedes Aufsehen in der Stadt vermieden werden. Auch etwaige Sympathiekundgebungen der ein­heimischen Bevölkerung sollten verhindert werden. Solche Sympathiekundgebungen waren der deutschen Autokolonne auf dem Wege von Przemysł bis Lemberg bereits dargebracht worden.

Die Mitarbeiter der sowjetischen Umsiedlerkommission zeichneten sich durch zwei besonders ins Auge fallende Merkmale aus: Verständnislosigkeit und tiefes Misstrauen. Sie konnten es einfach nicht begreifen, warum die Deutschen nach der, wie sie es nannten, Befreiung von der polnischen Willkür und Unterdrückung aus diesem Land fortziehen wollten. Manche von ihnen versuchten sogar, einzelne Kommissionsmitglieder und auch die Umsiedler davon zu überzeugen, dass die Deutschen in der Sowjetunion, wie das Beispiel der Wolga­deutschen Republik zeige, volle und ungestörte Entwicklungsmöglichkeiten besäßen. Und man hatte den Eindruck, dass diese NKWD-Mitarbeiter (Geheimdienstmitarbeiter) und Parteifunktionäre wirklich daran glaub­ten, was sie sagten“.

Dazu meine Anmerkung: Solche Illusionen der Mächtigen im Kommunismus ermöglichten 1939 die Verträge zur „freiwilligen“ Umsiedlung, weil sie dachten, alle Deutschen würden im sozialistischen Sowjetreich bleiben. Und noch 1989 hatten die Mächtigen der DDR die Illusion, dass aus freien Wahlen eine sozialistische DDR hervorgehen würde. Im gleichen Jahr 1989 hatten allerdings die Chinesen diese Illusionen nicht. Es gab tausende Tote auf dem Platz des himmlischen Friedens. Und von den Chinesen haben Putin und Lukaschenko gelernt, wie man seine Macht sichert.

Ich zitiere weiter im Bericht: „Sie waren daher aufs höchste erstaunt, als sie dann feststellen mussten, dass die Schlangen vor den Registrierungslokalen der Umsiedlungskommission nicht abrei­ßen wollten und dass Tausende und Abertausende sich eintragen ließen, und noch mehr waren sie erstaunt, als sie sahen, dass die Registrierten trotz des inzwischen eingekehrten Winters mit außerordent­lich viel Schnee und Temperaturen bis zu 40 Grad unter Null sich in Trecks und Eisenbahntrans­porten tatsächlich auf den Weg nach dem Westen machten“.    >Ende des Zitats.

 

Cecilia Scheller aus Hamburg, sie stammt aus einer Familie in Bruckenthal, übergab mir im Jahre 2005 einen von ihr verfassten Bericht, der sehr eindeutig und persönlich die Ungerechtigkeit der Situation während der Umsiedlung beschreibt, die sie als zehnjährige erlebt hat. Ich zitiere:

„Diese Maschinerie des Schreckens, gesteuert von Menschen mit einer niederen Gesinnung überrollte im Herbst 1939 das Land meiner Familie, das Land, in dem ich geboren bin und wo ich zur Schule ging. Das Land, das uns dort Geborene die eigentliche Heimat war und ist und bleiben wird. Diese Maschinerie überfiel den geordneten, so sicher erscheinenden multikulturellen Lebensraum, entwurzelte Millionen Menschen und verpflanzte sie dorthin, wo sie als willenlose Sklaven den 'Eroberern' gehorchen mussten.

So erging es auch den Galiziern, die sich dem 'deutschen Kulturkreis' angehörig fühlten. Sie mussten es hinnehmen, dass es bei den Reichsdeutschen mit ihrer Kultur nicht weit her war. Das war eine der bitteren Enttäuschungen, die die Galizier erfahren mussten, und nicht nur die deutschstämmigen. – Auch die Ukrainer fühlten sich im wahrsten Sinne des Wortes betrogen in ihrer Hoffnung auf Beistand von der Reichsdeutschen Regierung.“.  

>Ende des Zitats von Cecilia Scheller.

Hier finde ich den Beweis, dass meine Eltern nicht die Einzigen waren, die im „Großdeutschen Reich“ einen Kulturschock erlitten. Die Kultur Galiziens suche auch ich in Mitteldeutschland vergebens.

 

Die Situation seines Heimatdorfes Wiesenberg vor der Umsiedlung beschreibt Peter Lang 1969 im Zeitweiser der Galiziendeutschen. Er berichtet, wie ein deutsches Dorf durch staatliche und kirchliche Maßnamen zu einem Dorf von Polen umgeformt werden sollte. Ich zitiere:

„Inzwischen war die Polonisierung innerhalb der Kirche fortgeschritten. Der Gesang wurde zur Hälfte in deutscher, zur Hälfte in polnischer Sprache geführt. Die Pfarrer waren fast ausschließlich polnischer Her­kunft, sprachen meistens sehr wenig deutsch und benutzten die Kirche zur Vorantreibung der Polonisierung. Nur der letzte vor der Umsiedlung amtierende Pfarrer in Wiesenberg Eduard Wiśniewski war eine Ausnahme. Er sprach ein gutes Deutsch, lehrte die Kin­der deutsche Kinderlieder und bewahrte während des Krieges die Ein­wohner vor Repressalien.

Auch auf dem Gebiet der Schule konnte man wenig optimistisch in die Zukunft blicken. Die deutsche Unter­richtssprache musste der polnischen bis auf verschwindend kleine Anteile weichen. Die Lehrer waren angewiesen, die Kinder in polnischem Geiste zu erziehen.

Bis 1934 war die politische Gemeindeverwaltung in deutsch orientierten Händen. Aber in den nach­folgenden Jahren wurde der Ortsvorsteher aus der Reihe des polnisch orientierten Schützenverbandes vom Starosten (Landrat) sozusagen ernannt. Auf Druck dieser Instanz wurde die Auswahl der Gemeindevertretung durch einen Kompromiss beider Gruppen vollzogen, wobei schon im Vorhinein der Amtsvorsteher be­stimmt war. Auf diese Weise wurde den Einwohnern von Wiesenberg ihr demokratisches Recht zur Gemeinderats­wahl entzogen.

Andererseits war es das Ziel der deutschen Volksgruppe, sich ihre deutsche Muttersprache, ihre deutschen Sitten und ihre deutsche Kultur zu erhalten und zu fördern und auch die gemeinsame Wirtschaftslage zu verbes­sern. Diese Politik betrieb sie keineswegs nationalistisch, sondern erfüllte ihre Pflicht als loyale polnische Staatsbürger, obgleich die staatlichen Organe ihnen große Schwierigkeiten bereiteten.

Diese zielbewusste und beharrliche Arbeit ließ die Volksgruppe zunächst erfolgreich aus die­sem Kampf hervorgehen. Einen großen Anteil an diesem Erfolg hatte auch die Jugend, die in unermüdlichem Fleiß und Eifer besonders durch Theaterstücke die deutsche Kultur lebendig erhielt und aus ihren Veranstaltungen einen erheblichen Reingewinn erzielte, der zur Tilgung der Kosten für Gemeindeeinrichtungen diente.

Bei Tanzveranstal­tungen und zu besonderen Anlässen spielte eine Kapelle, die sich aus Jugendlichen des Dorfes zusammensetzte. Trotz aller Errun­genschaften war es fraglich, ob die deutsche Volks­gruppe dem immer stärker werdenden Druck der polnischen Regierung auf die Dauer hätte widerstehen können“. Peter Lang schreibt weiter:

„Der Zweite Weltkrieg bereitete der Ge­meinde Wiesenberg ein Ende. Das Dorf wurde in „Czerwony Kamien" (Roter Stein) umbenannt. Vier männliche Einwohner wurden verhaf­tet und in das Konzentrationslager Bereza Kartuska abtransportiert, unter ihnen auch der Verfasser. In trauriger Erinnerung ist besonders ein polnisches Polizeiaufgebot, das kurz vor dem polnischen Zusammenbruch das Dorf überfiel, den größten Teil der Woh­nungen verwüstete und die Bevölkerung, gleichgültig welchen Alters und Geschlechts, Repressalien aussetzte“. (Hier merke ich an: Der polnische Pfarrer Wiśniewski und der Lehrer Piotrowski haben durch Verhandlungen die kritische Lage entschärft). „Am 8. Dezember 1939 traf dann eine deutsch-sowjetrussische Kom­mission ein, welche die Umsiedlung der deutschen Bewohner in Wiesenberg leitete. Die Umsiedlung erfolgte freiwillig; alle Deutschen ließen sich registrieren.

Am 11. Januar 1940 traten Frauen, Kinder, alte und kranke Leute aus Wiesenberg mit der Eisenbahn die Reise nach Deutschland an. Zwei Tage spä­ter, in der Nacht, rief die Glocke die letzten Einwohner von Wiesenberg zum Abschied auf. Bei heftigem Schneesturm und sehr strengem Frost ver­ließen die Männer mit ihren voll beladenen Pferdewagen schweren Herzens die alte Hei­mat, um einer ungewissen Zukunft entgegenzufahren. Sie wurden von den ukrainischen Nachbarn herzlich verabschiedet und nicht selten flos­sen Tränen...“

>Ende des Zitats.

Anmerkung Nov. 2024: Angeblich fuhr mein Großvater Josef Heil mit drei Fuhrwerken aus Wiesenberg heraus, denn er war der größte Bauer im Dorf. Die deutschen Frauen und Kinder, darunter auch meine Mutter und ich, fuhren die ersten 90 km bis zur damaligen (und heutigen) Grenze im Viehwaggon bis Przemysł. Dort standen wir drei Tage bei Temperaturen um minus 20 Grad. Auf deutscher Seite konnten wir in normale Personenwagen der Reichsbahn umsteigen und der Transport wurde dann von Ärzten betreut.

Andere Einzelheiten der Umsiedlung beschreibt Anton Engel (1915-1995, zuletzt in Köln, bekannt als ‚Bruche Tośiu’) in seinen Erinnerungen an Wiesenberg im Zeitweiser der Galiziendeutschen 1986. Ich zitiere:

„Am 8.12.1939 kam aus Lemberg eine deutsch-russische Kommission nach Wiesenberg, um alle Deut­schen zu erfassen, samt Hab und Gut. Dazu kamen auch alle Deutschen der umliegenden Dörfer: Mierzwica, Skwarzawa, Macoszyn und Soposzyn. Am 11.01.1940 traten Frauen und Kinder sowie Alte und Kranke in Güterwagen der Eisenbahn die Reise an. Pfarrer Wiśniewski ging auch mit.

Wiesenberg war auch die zentrale Sammelstelle für alle, die mit dem Pferdetreck auf die Reise gingen. Am 12.01.1940 war das Dorf voller Fuhrwerke. Das Signal zur Abfahrt war das Läuten aller Glocken. Dieser letzte Klang traf alle tief bis in die Seele: sogar den här­testen Männern trieb es die Tränen in die Augen.

Die Frauen und Männer wurden von den ukrainischen Nachbarn herzlich, aber mit Wehmut verabschiedet, wobei viele Tränen geflossen sind, denn sie wussten, dass ihnen eine schwere Zukunft bevorstand. >Ende des Zitats.

Dieser letzte Satz von Anton Engel, genauso wie vorher von Peter Lang, ist ein Hinweis darauf, dass das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen Deutschen, Polen und Ukrainern trotz der staatlich verordneten Polonisierung bis zuletzt noch immer gut war - und das wird uns beim Besuch in der Ukraine auch jetzt noch nach 80 Jahren von den Ukrainern bestätigt. Wie oben berichtet, begleitete Pfarrer Wiśniewski seine Gemeinde. Offenbar unter dem Eindruck der Ungerechtigkeiten im Warthegau entschloss er sich aber zur Übersiedlung ins General-Gouvernement.

 

Das waren zwei Berichte zum deutschen Dorf Wiesenberg. In den anderen katholischen Dörfern mag es ganz ähnlich gewesen sein. Die Umsiedlung aus der Stadt Lemberg beschreibt Elisabeth Gerbrandt recht ausführlich bis hin zu ihrer Ansiedlung in Leipzig, wo sie mit über 90 Jahren immer noch lebt. Ich zitiere:

„Nun schickte Hitler auf Grund des Paktes mit Stalin seine Umsiedlerkommission nach Galizien. Die Deutschen, die „Heim ins Reich“ wollten, wurden registriert und in verschiedene Transporte aufgeteilt. In den deutschen Dörfern wurden Trecks zusammengestellt und die Bewohner fuhren mit Pferd und Wagen in Richtung Westen. Für die Deutschen in den Städten wurden Güterzüge bereitgestellt. Wir hatten kaum eine Wahl: entweder „Heim ins Reich“ oder nach Sibirien. Das war eine Befürchtung, die durch die Schicksale von zurückgebliebenen Deutschen bald bestätigt werden sollte.

Unser Transport ging am 8. Januar 1940 bei minus 35 Grad Kälte vom Güterbahnhof Lemberg ab. Der Nachfolger in unserem Haus, das wir erst seit eineinhalb Jahren bewohnten, Herr Nowicki, half uns das Gepäck zum Bahnhof zu bringen. Er war auch ein Eisenbahner wie mein Vater.

Auf dem Güterbahnhof suchten die Männer nach Holz oder Kohle, um die Eisenöfen, die in der Mitte der Güterwagen standen, zu beheizen. Aber es war trotzdem so kalt, dass an den Außenwänden des Waggons das Brot und die Äpfel gefroren waren, während man sich innen fast die Knie am Ofen verbrannte. In der Nacht kamen wir mit unserem Transport über die Brücke des Flusses San bis Przemyśł. Es war eine holprige Fahrt mit Rütteln und Schütteln und vielen Standpausen auf der kurzen Strecke von 85 km.

In Przemyśł wurden wir in einer Kaserne untergebracht und von der Deutschen Wehrmacht mit Essen aus einer Gulaschkanone versorgt. Ein Personenzug brachte uns bald bis Pabianice bei Łódz. Dort hatten wir Nachtquartier in einem Schaf- oder Ziegenstall. Es hat gestunken und man wollte nicht glauben, dass man uns Deutsche so in Deutschland aufnimmt. Aber es änderte sich nichts. Als Zehnjährige habe ich auf unserem großen Korb gut geschlafen, aber die Erwachsenen haben sich bestimmt nicht in das Stroh schlafen gelegt.

Am nächsten Tag ging es zur Entlausung. Es war eine höchst unangenehme und peinliche Angelegenheit. In einem Raum mussten die Kleider und die Unterwäsche ausgezogen werden, dann ging es unter die Dusche. Ich merkte, dass es meiner Mutter peinlich war. Nach dem Bad gingen wir in den Trockenraum und dann zu unserer „entlausten“ Garderobe. Man brachte uns dann in eine saubere Tuchfabrik nach Łódz. Dort blieben wir etwa vierzehn Tage und bekamen am 19. Januar 1940 die Einbürgerungsurkunde. Von Łódz aus ging der Transport nach Böhmisch Leipa (Ceska Lipa). In der großen Tuchfabrik waren zwei Fabrikhallen als Schlafräume eingerichtet worden.

Der Raum im ersten Stock war mit Doppelstockbetten ausgestattet, im zweiten Stock gab es eine einfache Bettenreihe. Dadurch gab es mehr Licht und Sonne in dem Raum. Es schliefen etwa zehn Personen in einer Reihe. Neben mir in der Reihe lag ein Herr Partyka, dann schlief meine Mutter, daneben mein Vater und wahrscheinlich weiter ein Mann und so setzte sich die Reihe fort.

Man musste sich schließlich an das Lagerleben gewöhnen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Ich habe aus festem Papier, das ich in der Fabrik gefunden habe, Spielkarten gemalt und ausgeschnitten und die Kinder zum Spielen eingeladen, um überhaupt etwas Beschäftigung zu haben. Später bekamen wir von einem alten Lehrer, dem Rentner Herr Neumann, 2 bis 3 Stunden Unterricht in Deutsch. Es musste zuerst die gotische Schrift gelernt und geübt werden. Später gab es im Lager eine Kindergärtnerin, Schwester Hilde, die uns beschäftigte, uns deutsche Lieder beibrachte und mit uns im Ort spazieren ging. Wir blieben ein halbes Jahr in dem Lager in Böhmisch Leipa. Nach etwa vierzehn Tagen ging es weiter in ein Lager in Leipzig. Mein Vater fand in Leipzig eine Stelle bei der Deutschen Reichsbahn im Magdeburg-Thüringer Bahnhof, die gleiche wie vorher schon in Lemberg. Wir wurden in einer Schule in der Elsässer Strasse untergebracht. Dort durfte ich dann den Unterricht besuchen und zwar in der Schule in der Alexanderstrasse. Von der vierten Klasse der polnischen Schule kam ich in die fünfte Klasse der deutschen Schule und doch war ich ein Jahr älter als die deutschen Schüler, da wir in Lemberg erst mit sieben Jahren in die Schule aufgenommen wurden. Die Deutsche Reichsbahn wollte meinen Vater gern in der Güterabfertigung behalten, schon allein wegen der Sprachkenntnisse Polnisch und Russisch. So ging unsere Fahrt „Heim ins Reich“ Mitte Oktober 1940 in Leipzig Schönefeld zu Ende. Viele unserer Landsleute aus Galizien hatten aber weniger Glück als wir. Für sie war die Reise „Heim ins Reich“ erst fünf Jahre später mit der dramatischen Flucht aus dem Wartheland zu Ende“.  >Ende des Zitats. –

Das eben war ein Hinweis auf die Situation der schulpflichtigen Kinder, die durch die Umsiedlung nicht nur das Schulsystem, sondern meistens auch die Unterrichtssprache wechseln mussten.

Besonders informativ und eindrucksvoll sind die Tagebuchaufzeichnungen von Dr. Hans Koch über die Umsiedlung der Deutschen aus Ostgalizien, veröffentlicht im Heimatbuch der Galiziendeutschen 1977. Ich zitiere zunächst aus dem Vorwort:

„Universitätsprofessor Dr. Hans Koch, von uns einfach Dr. Koch genannt, war Stellvertreter des Lemberger Gebietsbevollmächtig­ten und Chefdolmetscher der deutschen Umsiedlerkommission.

Es bestand aber kein Zweifel: er war die Seele des ganzen Umsiedlungswerks, ihr Mittelpunkt auch über das Lemberger Gebiet hinaus. Genaue Kenntnis der Ethnographie und Geschichte Galiziens, einschließlich der deutschen Siedlungen, die Beherrschung der ostslawischen Sprachen, die Vertrautheit mit der Mentalität seiner Landsleute und ihrer slawischen Umwohner, auch der Russen. Die ihm eigene souveräne Ruhe in der Behandlung schwieriger Fälle, wie sie bei der Umsiedlung zu erwarten waren, befähigen ihn in hohem Grade für sein schwieriges Amt“.

In den stichwortartigen Tagebuchnotizen benennt Hans Koch sich selbst in der dritten Person als Dr. Koch. Aus diesen Notizen habe ich einige Kapitel herausgesucht, die vor Allem das deutsche Dorf Wiesenberg betreffen. Die Zeitangaben „Osteuropäische Zeit“ sind ein Hinweis auf die Umstellung auf die um zwei Stunden unterschiedliche Moskauer Zeit durch die russischen Behörden. Die Moskauer Zeit mit Sonnenschein um Mitternacht gab es übrigens auch bei uns im russisch besetzten Mitteldeutschland kurz nach dem Krieg.

 

Ich zitiere:

„Am 9.12.1939 um 2 Uhr früh Osteuropäischer Zeit: Eintreffen des Sonderzuges der Umsiedlungskommission in Lemberg. Der Bahnhof ist kalt, düster, streng und abgeschlossen. Vor dem Bahnhof warten Sowjetkraftwagen, darunter ein LKW für das Gepäck. Nach längerer Irrfahrt durch die menschenleere, zum Teil zerschossene Stadt (gemeint ist die Elisabethkirche am Bahnhof), landet der Stab vor einer Villa der Stryjer Vorstadt und wird einquartiert.

 

12.12.1939 - also drei Tage später.

Plötzlich kam der erste Stoss von Besuchern. Vormittags standen auf einmal Gruppen von Menschen vor unserem Haus und begehrten Einlass. Die Sowjetwache versuchte zu bremsen, zu notieren, auszusondern, aber sie hielt den Stoss einfach nicht durch und musste die Menschen, mit denen sie sich obendrein nicht verständi­gen konnte, schließlich auf uns abwälzen. Es kam allerlei Volk: Polen, Ukrainer, der holländische Konsul, Juden und ein Franzose; alle wollen weg, nur weg.

Im Laufe des Nachmittags ebbte der Strom ab. Aber gleichzeitig kam unser Anschluss an das öffentliche Telefonnetz zustande, und nun rissen die Gespräche nicht ab. Stryj, Unter­walden, Josefòw usw. meldeten sich kunterbunt, gewöhnlich beide Vertreter zusammen, und wurden von Dr. Koch gleichermaßen in deutscher, ukrainischer und russischer Sprache bedient.

Der für den 10.1. früh fällig gewesene Transport Nr. 67 ab Rawa Ruska-Żòlkiew ist um 15.00 Uhr Osteuropäischer Zeit noch immer nicht gestellt. Die Umsiedler frieren im Freien bei minus 30°. Aus Rawa Ruska wird ein Toter durch Erfrierung gemeldet.

 

10.1.1940 – das ist Mitte Januar, als die Umsiedlung in vollem Gange war.

Der Zug Wiesenberg - Żòlkiew, fällig am 10.1., hat bis 11.1. noch immer keine Waggons; Die Einquartierung der Umsiedler wurde notdürftig in ungeheizten Räumen veranlasst; Der Sowjetvertreter in Rawa Ruska ist besonders hilfsbereit, scheitert freilich an technischen Schwierigkeiten. Die Güterwagen Rawa Ruska wurden um 12.00 Uhr OEZ gestellt, aber ungereinigt - wenigstens Heizmaterial ist vorhanden.

Gerüchteweise verlautet, dass die Lemberger Eisenbahndirektion wegen angeblichen Waggonmangels alle Evakuierungstransporte vorübergehend einzustellen gedenkt.

 

12.1.1940

Der Treck Wiesenberg (das sind die Männer mit den Fuhrwerken) verzögert seinen Ausmarsch infolge lästiger Kontrollmaßnah­men örtlicher Miliz und des russischen Ortsbevollmächtigten. Die Intervention des deutschen Lem­berger Gebietsstabes an Ort und Stelle am 12. 1. bleibt erfolglos. Sollte der Ausmarsch am 13.1. noch freigegeben werden, so wird der Treck versuchen, bis Abend Kaltwasser zu erreichen.

Als Randnotiz: Merkliches Nachlassen der Fröste; größere Schneefälle, Schneetreiben und Ver­wehungen.

 

13./14.1.1940

Der Treck Unterwalden passierte am 14.1. mittags die Stadt Lemberg und erreichte um 15.00 Uhr OEZ Kaltwasser. Infolge der gestrigen Verzögerung durch sowjetische Kontrollen kam der Treck Wiesenberg nach Sammlung in Kulikow am 14. 1. erst mittags durch Lemberg und stieß auf Höhe von Kaltwasser auf den rastenden Treck Unterwalden. Da die Wiesenberger Pferde angesichts neuer Schneeverwehungen und überstandener Marschleistung zum Weitermarsch zu müde waren, wurde der Treck Unterwalden sofort aus Kaltwasser nach Gròdek vorgeschickt, während der Treck Wiesenberg im Raume Kaltwasser über­nachtet. Seit mehreren Tagen streichen Sowjets aufgrund angeblicher höherer Befehle stets unmittelbar vor Abmarsch die mitzunehmenden und beiderseits bereits regi­strierten Landarbeiter plötzlich aus den Listen und verlangen stets eine Ge­nehmigung durch den deutschen Ortsbevollmächtigten.

Das wird deutscherseits befehlsge­mäß stets abgelehnt, so auch in Unterwalden und in Wiesenberg[3] “. Ende des Zitats.

Dazu eine Anmerkung von mir zur Dauer der Transporte: Der Treck der Fuhrwerke aus Wiesenberg war demnach vom 13. bis 15. Januar 1940 unterwegs, das sind 3 Tage. Zum Eisenbahntransport der Frauen und Kinder aus Wiesenberg berichten Peter Lang und Sigmund Kolmer, dass Frauen und Kinder 2 Tage vor Abfahrt des Trecks der Fuhrwerke mit den so genannten Viehwaggongs der Eisenbahn abtransportiert wurden. Der Eisenbahntransport kam aber erst zwei Tage nach dem Treck der Fuhrwerke in Przemysl an. Demnach waren die Frauen und Kinder aus Wiesenberg wegen der russischen Kontrollen und Schikanen 7 Tage lang bei strengem Frost mit der Eisenbahn unterwegs auf einer Strecke von maximal 100 km.

 

Als eine Art Abschlussnotiz schreibt Hans Koch Ende Januar:

„Die Verluste an Toten und Kranken sind doch größer, als wir es nach den anfäng­lichen Meldungen geglaubt hätten. In Przemysł allein sind bisher 30 Umsiedler be­graben, zumeist ältere Menschen. Wie mir unsere Kraftfahrer berichten, waren die Begräbnisse sehr unfeierlich, das Gefolge oft nur aus einer zufällig anwesenden Krankenschwester bestehend, ohne jeden geistlichen Beistand. Aus Krakau werden ebenfalls Todesfälle gemeldet.

Ein bitteres Kapitel bildet das Schicksal der 150 Gefangenen unseres Gebietes. Seit 6 Wochen bestürmen wir die Sowjets, um die vertragsgemäße Freigabe dieser Männer und Frauen zu erreichen. Täglich standen weinende Familienangehörige vor unseren Bü­ros. Jetzt sind auch sie weniger geworden; die meisten haben resigniert und sind abge­reist. –

Von den 150 Gefangenen haben am Ende nur 3 die Freiheit erlangt!“

>Ende des Zitats.

 

Nach diesen Tagebuchaufzeichnungen soll als eine Art Schlusswort noch ein Zitat aus einem Artikel von Sepp Müller folgen, der als Mitglied der Umsiedlerkommission den Abschlussgottesdienst in der evangelischen Kirche in Lemberg erlebt hat.

Ich zitiere:

„Selten war diese Kirche so überfüllt, wie an diesem ersten Weihnachtstag 1939, als unter den Deutschen der Stadt durch Benachrichtigung von Mund zu Mund bekannt geworden war, dass Professor Koch den Gottesdienst und die Predigt halten werde. Deutsche Protestanten und Katholiken füllten das Gotteshaus bis zum Rand und erlebten ei­ne der eindrucksvollsten gottesdienstlichen Handlungen und eine der ergreifendsten Predig­ten, die jemals hier gehalten wurden.

Hans Koch, Kind dieser deutschen evangelischen Gemeinde, in dieser Kirche getauft und konfirmiert, ehemaliger Schüler der deutsch-evange­lischen Schule und des deutschen Staatsgymnasiums der Stadt, nahm für seine Landsleute und für sich Abschied von der Kirche, der Gemeinde, der Stadt und dem Land, die von meh­reren deutschen Generationen unter harten Entbehrungen und großen Opfern, aber mit umso mehr Liebe und Fleiß geschaffen und ausgestaltet worden waren. Er nahm Abschied für immer und erflehte Gottes Segen für die Zukunft“.

Zwei Wochen später aber, bei der Feier des Heiligen Abends für die Mitglieder des Gebietsstabes, beschloss Hans Koch seine Ansprache mit den Worten:

„Wir sind die Totengräber eines 160-jährigen Volksgruppenlebens und seiner Kulturschöpfungen. Aber wir wollen hof­fen, dass wir gleichzeitig Wegbereiter einer besseren Zukunft für Zehntausende von Getreuen sind“.

 

Das schreibt Sepp Müller über die letzten Tage der Deutschen in Lemberg.

 

Mit diesen Abschiedsworten schließe ich das Kapitel der Umsiedlung der Galiziendeutschen 1939/1940. Ich persönlich und wir alle haben unseren Eltern und ihrer ganzen Generation zu danken für ihre Entscheidung, den Weg nach Deutschland zu wählen - und wie wir jetzt wissen, war es auch der Weg in ein freies Europa.            

                                                                         

P.S. 10.03.2024 – Der Text eines Werbeplakates aus dem Jahre 1939 kennzeichnet die wahren Absichten der Nationalsozialisten. Über diesen Text hinaus waren auch die Fähigkeiten der Galiziendeutschen zur sprachlichen Verständigung mit den Polen im Warthegau gefragt.

„Nach dem Feldzug der 18 Tage begann die bisher großzügigste Umsiedlungsaktion  der Weltgeschichte.

Alle Volksgruppen, die draußen ihre Aufgaben erfüllt haben, rief der Führer zurück in die Heimat ihrer Väter. Sie helfen jetzt mit beim Ausbau und der Festigung des Großdeutschen Reiches. In besonderem Maße werden beim Aufbau des Warthegaus ihrekolonisatorischen Fähigkeiten“ wirksam werden“!

 

Ergänzung 2024 zur Flucht 1945

 

Dieser Bericht über die vergleichsweise harmlose Umsiedlung der Galiziendeutschen muss unbedingt ergänzt werden durch Berichte über die dramatischen und katastrophalen Ereignisse am Ende des Krieges, als die Deutschen aus dem Warthegau vor der Roten Armee flüchten mussten.

Aus meinem Vortrag zum 19. Galiziertreffen in Ostrau am 24.09.2016 über die Geschichte der Deutschen im Wartheland zitiere ich eine Stelle aus einem Bildband über das Wartheland:

„Als am 12. Januar 1945 die Sowjets südlich von Warschau zum Großangriff antraten, nahm man das in Posen, in der Hauptstadt des Warthegaus nicht besonders ernst. Der Gauleiter des Warthegaues, Arthur Greiser, verbot jedwede Evakuierung. Erst acht Tage später, am 20. Januar, entschied sich Greiser, die Evakuierung einzuleiten. Aber am gleichen 20. Januar erhielt Greiser den Befehl, in Berlin neue Aufgaben zu übernehmen. Daraufhin übergab er die Führung des Gaues an seinen Stellvertreter Schmalz. Greisers plötzliche Flucht aus Posen mit der gesamten Parteiführung und die Aufforderung seines Stellvertreters an die deutsche Zivilbevölkerung, die Stadt Posen in wenigen Stunden bis 24:00 Uhr zu verlassen, lösten eine ungeheuere Verwirrung aus, die sich am 21. Januar zur Panik steigerte“.

Was sich damals in Posen abgespielt hat, war in Litzmannstadt (Lódz) wahrscheinlich kaum bekannt, denn die Menschen dort hatten ihre eigenen Sorgen. Deshalb möchte ich einen dramatischen Bericht des Eisenbahners Anton Scheller aus Bruckenthal zitieren, der mit der Eisenbahn aus Litzmannstadt geflüchtet ist:

 „Nachdem Litzmannstadt im Januar 1945 zum ersten Mal von Flugzeugen bombardiert worden war, musste ich als Führer einer Selbstschutzabteilung gleich in den Dienst im Bahnbetriebswerk. Wenige Tage später traf ich einen Kesselschmied aus unserem Betrieb auf der Straße vor unserer Wohnung mit einem Bündel. Ich fragte ihn was los sei. Er antwortete: ‚aus unserem Betrieb flüchten ja schon alle’. Ich lief schnell in die Wohnung (Frau und Kinder waren schon bei Bromberg evakuiert) holte ein paar Sachen, die ich auf den Schlitten lud und los ging’s in den Betrieb.

Als ich dort ankam, stand der Zug schon zur Abfahrt bereit und nach ein paar Minuten ging es tatsächlich los. Wir kamen nicht weit, nur bis zum Bahnhof in Litzmannstadt. Wir wurden vom Stadt­kommandanten angehalten, auf dessen Befehl wir nicht weiter durften. So standen wir noch eine Nacht und einen Tag auf dem Bahnhof von Litzmannstadt. Am nächsten Abend gab er uns freie Fahrt. Wahrscheinlich war er selbst mit dem Auto geflüchtet, denn der Russe war schon in die Stadt eingedrungen.

Ein paar Kilometer hinter Litzmannstadt war ein Zug mit verwundeten Soldaten liegen geblieben. Bei diesem Zug war von dem vorderen Drehgestell die erste Achse entgleist. Wir mussten zuerst die Achse ins Gleis bringen um weiterzukommen. Daran haben wir die ganze Nacht gearbeitet, aber kaum hatten wir die Achse im Gleis, als schon die ersten russischen Granaten nicht weit von uns einschlugen. Wir alle - Flüchtlinge und Soldaten - waren froh, dass es weitergehen konnte. Von Litzmannstadt kamen wir nur bis Sieradz, weil wir kein Wasser für die Lokomotive mehr hatten. In Sieradz lag schon ein Flüchtlingszug, bela­den mit Frauen und Kindern aus Litzmannstadt. Auch dieser Zug konnte nicht weiter, weil der Kessel kein Wasser hatte.

Es standen noch mehrere andere Züge mit verwundeten Soldaten auf der Strecke, die nach meiner Meinung hätten gerettet werden können, wenn ein bisschen mehr Disziplin und Verantwortung geherrscht hätten. Aber leider waren die Herren Uniform-Eisenbahner schon weit im Hinterland und wir blauen Eisenbahner waren die letzten, die in diesem Abschnitt übrig geblieben waren. Mit einer Feuerwehrspritze, die man aus einem Dorf geholt hatte, füllten wir den Kessel des anderen Zuges mit Wasser und heizten die Lok auch an und wir füllten auch unseren Tender mit Wasser. Wir hatten kaum sieben Kubikmeter Wasser im Tender, da kam ein Hauptmann und rief uns zu: ‚Wenn ihr noch wegkommen wollt, so macht schnell, denn der Russe ist schon im Dorf’.

Ich packte die kleine Motorspritze zusammen und lud sie ein. Aber die andere Flüchtlingslock hatte noch immer keinen Dampf. Als unser Zug sich in Bewegung setzte und die Flüchtlinge das sahen, stürzten sie alle aus ihrem Zug und stürmten zu unserem Zug. Ich kann es heute noch nicht vergessen, wie schrecklich das war, als die Kinder nach der Mutter geschrieen haben. Wir hielten gleich unseren Zug an und wir Männer luden die Kinder wie Säcke in die Wagen ein, obwohl der Zug übervoll war. Noch bevor wir das nächste Stellwerk erreicht hatten, wurden wir von Flugzeugen bombardiert, aber Gott sei Dank wurde unser Zug nicht getroffen, so dass wir über die Warthe weiterfahren konnten“.…

 Das war die Situation der Menschen, die mit der Eisenbahn fliehen mussten. Mein Vater Johann Kraus als Eisenbahner hatte die Aufgabe, mit den Holzvergaser-LKW der Deutschen Reichsbahn aus Litzmannstadt über Posen Richtung Westen zu fliehen. Englische Flugzeuge schossen seinen LKW bei Brandenburg/Havel in Brand, wobei all unsere Dokumente und Wertsachen verbrannten. Seine Flucht mit mehreren LKW endete schließlich in Glückstadt an der Nordsee. Er war aber über das Ziel der Flüchtlingstrecks aus dem Raum Kalisch informiert und fand die Familie Heil schließlich in Drobitz im Kreis Bitterfeld, wozu Ostrau und Umgebung damals gehörten. Auch der Bruder meiner Mutter Josef Heil kam mit 4 Kindern und Schwiegereltern mit dem Treck in Drobitz an.

Meine Großmutter Elisabeth Henchen und die Familie meines Vaters schafften es nicht, aus dem Raum Lentschütz den Russen zu entkommen. Der Stiefvater Georg Henchen und weitere deutsche Männer in diesem Gebiet wurden von den Russen erschossen. Die Großmutter mit Tochter und Enkelin konnten sich erst 1947 durch Flucht aus der polnischen Gefangenschaft befreien.

Meine persönlichen Erinnerungen beziehen sich auf die Flucht mit dem Pferdewagen und mit der Bahn. Meine Mutter hatte sich dem Treck aus dem Ort Russdorf bei Kalisch angeschlossen, weil dort ihre Familie lebte. Allerdings gab es auf unserem Fuhrwerk der Familie Heil nur Frauen, Kinder und alte Leute, denn die Männer und Brüder waren als Soldaten an der Front. Rosa, die 18-jährige Schwester meiner Mutter war die Wagenlenkerin, dazu meine Großmutter Katharina Heil und meine Mutter mit zwei Kindern. Meine Urgroßeltern Philipp und Anna Heil mit über achtzig Jahren wurden unterwegs dem deutschen Roten Kreuz übergeben. Nach dem Krieg wurde bekannt, dass Anna Heil nach dem Tod ihres Mannes in Lódz, im Sommer 1945 allein bis Lemberg gefahren ist. Sie informierte auf dem Bahnhof noch sterbend einen Eisenbahner aus Wiesenberg über ihr Schicksal.

Unsere Flucht mit dem Treck war nach etwa 120 km zu Ende. Wir mussten Wagen und Pferde in Lissa, dem damaligen Grenzort Polen/Deutschland stehen lassen, denn die Pferde hatten wund gelaufene Hufe. So sind wir von Lissa mit dem Zug weitergefahren. Wegen fehlender Essensvorräte sind wir aber in Kamenz schon wieder ausgestiegen. Andernfalls wären wir im brennenden Dresden gelandet. Nach Aufenthalten in Pantschwitz und Erfurt-Möbisburg kamen wir noch während des Krieges bei unseren Verwandten in Drobitz bei Halle an. Auf dem Weg dorthin, auf der Eisenbahnstrecke vor Leipzig, erlebten wir den letzten Bombenangriff, woran ich mich erinnere und ich erinnere mich auch an die Ankunft auf dem Bahnhof Stumsdorf als letzte Station unserer Flucht.

Meine Erinnerungen als Fünfjähriger an die Flucht sind nur stückweise und ich konnte den Ernst der Lage natürlich nicht begreifen. Deshalb möchte ich zum Schluss noch einen Bericht des Franz Bill aus Machliniec in Galizien anfügen, der damals 16 Jahre alt war. Er fuhr zur gleichen Zeit den gleichen Weg wie wir unter den gleichen Bedingungen. Der Bericht ist entnommen aus einer Serie von Berichten aus „Das heilige Band“, erschienen 1999.

„Am 19. Januar 1945 morgens um 4 Uhr bekamen wir den lang erwarteten Befehl, mit Pferd und Wagen loszufahren. Als wir kurz nach 4 Uhr aus unserem Ort Zinna, Kreis Kalisch im Warthegau losfuhren, lag viel Schnee und das Thermometer zeigte minus 21° C. Den Wagen voll beladen hatten die Pferde schwer zu ziehen, aber es ging nicht weit bis zum Stillstand. Schon nach 2 km, bevor wir die Hauptstraße erreichten, mussten wir bis zum Morgengrauen warten, denn die Hauptstraße war überfüllt. Als es weiterging, war es bereits hell und da wurden wir von Tieffliegern angegriffen. In unserer Nähe wurde Gott sei Dank niemand getroffen. In der ersten Nacht bekamen Mutter und Schwester einen Schlafplatz in einem Haus, ich musste auf dem Wagen die Nacht verbringen. Morgens waren die Stiefel an den Füßen so gefroren, dass ich kaum gehen konnte.

Bei der Weiterfahrt war es sehr glatt auf der Straße, und die Pferde sind öfters hingefallen. Auch war es für die Pferde schwer, denn die Räder waren eingefroren und haben sich nicht gedreht. In der darauf folgenden Nacht konnte man auch nicht schlafen, denn wir waren mit vielen Leuten in einem Raum. Als wir am nächsten Morgen in Richtung Lissa losfuhren, holten uns die Volkssturmmänner von der Front kommend ein. Sie hatten mit Russen Kontakt bekommen und waren voller Angst. So sind wir den ganzen Tag schnell gefahren. Das war möglich, denn die Straße war hier nicht sehr belegt. Einige Kilometer weiter war die Straße so verstopft, dass wir die ganze Nacht auf einer Stelle standen. Die Verzweiflung wuchs immer mehr, aber es ging nicht weiter. Gegen Morgen sahen wir, dass weiter vorn zwei Straßen zusammenkamen, und die Menschen auf der anderen Straße haben uns nicht draufgelassen. Ich kurz entschlossen, bin über das gefrorene Feld gefahren, und so kam ich etwas weiter doch auf die Straße. So kamen wir weiter, wenn auch schlecht.

Wir kamen vom flachen Land und hatten keine Bremse am Wagen, hier aber war es schon bergig, und so kam es zu Unfällen. Alles, was nicht mehr konnte, landete im Straßengraben. Wagen, tote Pferde und sonst allerhand Sachen. Die nächste Nacht mussten wir durchfahren. Obwohl es eine sternklare Nacht war, hat uns ein Panzer den Wagen zu Bruch gefahren. Zum Glück hatten wir Werkzeug bei uns und so konnten wir den Wagen reparieren.

Gegen Morgen kamen wir in Lissa an, und wir schöpften neue Hoffnung, weil wir an Schildern lesen konnten, dass sich hier eine Panzerabteilung sammeln sollte. Wir dachten, sie werden die Front aufhalten, aber zu unserer Enttäuschung, als sie sich gesammelt hatten, zogen sie an uns vorbei nach Westen, und wir waren wieder mitten in der Front. Fünf Tage und Nächte haben wir kaum Schlaf bekommen, und als wir jetzt in einem Ort in der Nacht ankamen, wurde es ruhiger mit dem Schießen, so wollten wir uns etwas warmes zu essen machen und schlafen, denn die ganze Zeit hatten wir gefrorenes Brot und Fleisch gegessen“….   Ende des Zitats.

Es ist erstaunlich, wie unsere Familie unter diesen Bedingungen sich wieder gefunden hat. Meine Eltern waren nun mit zwei kleinen Kindern zum zweiten Mal in ihrem Leben heimatlos geworden. Abschließend erinnere ich noch einmal an die Propagandaschrift der Nationalsozialisten für die Umsiedlung 1940, denn nun wurden die

 kolonisatorischen Fähigkeiten“

der Galiziendeutschen für einen Neuanfang nach dem Krieg aufs Neue gefordert.                              

W. Kraus

 

 



[1] Manfred Scheuch: Historischer Atlas Deutschland, Seite 99, Weltbild Verlag GmbH Augsburg 2000

[2] Am 4.6.2023 wurde dieser Vortrag mit Kennzeichnung der das Museum betreffenden Sätze einer Mitarbeiterin des Museums von W. Kraus übergeben.

[3] Mit den Landarbeitern sind offenbar ukrainische und polnische Hilfskräfte gemeint, damals als Knechte bezeichnet, die für den Neuanfang im Warthegau gebraucht wurden.