Die
Umsiedlung der Galiziendeutschen 1940 und ihre Flucht 1945
Vortrag von W. Kraus zum 21.
Galiziertreffen in Kütten bei Halle am 28.09.2019
über die Umsiedlung der Galiziendeutschen 1940.
Erschien im Juli 2020 im „Galizien
German Descendants newsletter“
(corcoranmary01@gmail.com
22.03.2020),
redigiert von Mary Johnson Corcoran aus Polson, Montana, USA
mit Wurzeln in der Familie Defee aus Bruckenthal/Galizien.
Stark gekürzt als Vortrag am 3.
Juni 2023 in Bad Saarow zum Treffen der
Galiziendeutschen aus Machliniec.
Am
4.6.2023 wurde dieser Vortrag einer Mitarbeiterin des Museums für Vertreibung
in Berlin von W. Kraus übergeben.
Ausführliche erste Fassung von 2019
mit Ergänzungen, angefügt am 13.06.2023. Erklärung einiger Begriffe für junge
Leute: 17.11.2024.
Fünf Jahre nach der Umsiedlung kam
es noch schlimmer. Ein Bericht über die Flucht 1945 vor der Roten Armee gehört
unbedingt dazu.
Gerade in diesen Tagen im September 2019 gibt
es einen besonderen Anlass, uns zu erinnern. Es sind jetzt genau 80 Jahre
vergangen, seit der Umsiedlung der Galiziendeutschen am Ende des Jahres 1939.
Ich gehe davon aus, dass die meisten von Ihnen die Umsiedlung nicht erlebt
haben und gar nicht mehr in Galizien geboren sind. Warum fühlen sich die
Spätgeborenen dennoch zugehörig zur Gemeinschaft der Galiziendeutschen?
Wir alle wissen bereits, welche
Besonderheiten unsere Volksgruppe auszeichnet. Unsere Vorfahren haben als
Deutsche mehr als hundertfünfzig Jahre lang in friedlicher Koexistenz mit
anderen Kulturen gelebt. Aber jetzt kommt noch eine weitere Besonderheit hinzu:
Vor nunmehr 80 Jahren begann eine Wanderschaft der Galiziendeutschen, die eine
Besonderheit darstellt im Vergleich zum Schicksal der vielen Entwurzelten
Menschen im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges.
Wenn Politiker von Flucht und Vertreibung
sprechen, dann meinen sie das schlimme Schicksal der Deutschen am Ende
des Zweiten Weltkrieges, als Millionen Deutsche auf Grund einer Vereinbarung
der Siegermächte aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Verschiebung von
Menschenmassen in großem Stil begann aber schon vorher, gleich am Beginn des
Krieges, denn die Diktatoren in Deutschland und in der Sowjetunion hatten im
August 1939 in einem geheimen Zusatzabkommen zum Hitler-Stalinpakt ihre
Einflussgebiete abgegrenzt. Mit der nun folgenden gewaltsamen Änderung der
Staatsgrenzen wurden auch die dort lebenden Menschen in Bewegung versetzt.
Am 1. September 1939 begann Deutschland den
Krieg mit dem Überfall auf Polen. Daran wurde vor kurzem erst mit Feierstunden
in Polen und in Deutschland erinnert. Kaum erwähnt wird aber der zweite Teil
der Aggression, der Einmarsch der Sowjetarmee in Ostpolen am 17. September
1939. Das aber ist besonders für die Polen und für uns Galiziendeutsche
ein wichtiges Ereignis.
Nun bin ich kein Historiker, der einen
genauen Überblick über die Quellenlage hat. Ich kann nur einige, mir zufällig
bekannt gewordene Erinnerungen zitieren, die schon wenige Jahre nach dem Krieg
aufgeschrieben und veröffentlicht wurden. Diese Erinnerungen beschreiben die
Situation und die Erlebnisse der direkt Betroffenen Menschen. Sie sollen
uns helfen zu verstehen, warum unsere Eltern und Grosseltern Haus und Hof
verlassen haben, als sie 1939 freiwillig aus dem sowjetischen Einflussgebiet in
das Deutsche Reich übersiedelten.
Die Situation vor über 80 Jahren, als der
Zweite Weltkrieg begann, ist für uns nach so vielen Jahren des Friedens nicht
einfach zu verstehen. Es ist gut, dass heute andere Maßstäbe gelten, aber wir
sollten bedenken, dass für alle Deutschen damals eine vaterländische Gesinnung
eine ganz normale Haltung war. Das galt ebenso auch in den meisten anderen
Ländern Europas. Die Besonderheit in Deutschland war aber, dass die Erfolge der
deutschen Wehrmacht gegen Polen und später auch gegen Frankreich als notwendige
Vergeltung für den ungerechten Versailler Vertrag gewertet wurden, wo
Deutschland Gebiete an Polen und Frankreich abtreten musste.
Dass
der Erste Weltkrieg durch einen ungerechten Diktatfrieden beendet wurde, wird
von den Historikern heute nicht mehr bestritten. Welch falsche Machtpolitik
durch die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg realisiert wurde zeigt
sich auch darin, dass die gleichen Politiker Frankreichs und Englands, die mit
dem Versailler Vertrag Deutschland gedemütigt hatten, damals auch das
Osmanische Reich als Mandatsgebiete unter sich aufgeteilt haben. Das Osmanische
Reich war wie Deutschland Verlierer im Ersten Weltkrieg. In Europa führte der
Vertrag von Versailles in der Konsequenz zum Zweiten Weltkrieg. Im Nahen Osten
wurden in den Mandatsgebieten neue Staaten gegründet. Die willkürliche
Grenzziehung dieser Staaten ist bis heute die Ursache für Gewalt und Krieg in
dieser Region.
Nach
meinem Eindruck ist dieser ungerechte Friedensvertrag auch eine Erklärung für
das Ausmaß der „Kollaboration“ der Franzosen mit der deutschen Besatzungsmacht
im Zweiten Weltkrieg, weil viele Franzosen ein schlechtes Gewissen gegenüber
Deutschland hatten.
Zum
Versailler Vertrag sagte Lenin in seiner Rede beim Kominternkongress
1920[1]:
„Eines der fortgeschrittendsten, gebildetsten,
kultiviertesten Völker wird in koloniale
Abhängigkeit, Elend, Hunger, Ruin und Rechtlosigkeit versetzt, also in
Verhältnisse, unter denen noch kein kultiviertes Volk gelebt hat“.
In Deutschland schien also 1939, kurz
nach dem Sieg über Polen, die so genannte „Schmach von Versailles“ getilgt und
die Welt schien wieder in Ordnung zu sein. Von Kriegsverbrechen der Wehrmacht
war bis dahin noch nicht die Rede, weil das ganze Ausmaß des deutschen Terrors
in Polen erst nach dem Krieg bekannt wurde und weil die Vernichtungslager noch
gar nicht existierten. Die Galiziendeutschen übersiedelten also in ein Land, in
dem scheinbar alles seine Ordnung hatte.
Galizien war aber nicht Deutschland, sondern
es war seit 20 Jahren ein Teil Polens. Dort gab es andere Besonderheiten der
Geschichte. Man spricht heute vom Mythos Galizien und meint damit die Zeit, als
das Land ein Teil der Habsburger Monarchie war. Die etwas älteren Deutschen,
die 1939 in Galizien lebten, hatten unter Kaiser Franz-Joseph schon bessere
Zeiten erlebt im Vergleich zu den Erfahrungen, die sie im neu gegründeten
polnischen Staat des Diktators Josef Pilsudski machen mussten. Jetzt lebten sie
in einem Staat, der alles nicht-polnische in der Kulturlandschaft auslöschen
wollte.
Das betraf nicht nur die deutsche Minderheit,
sondern auch die Kultur und Sprache der Ukrainer und Juden im Land. Der
Nationalismus in Polen war damals nicht weniger entwickelt als der
Nationalismus in Deutschland oder anderswo in Europa. Wir werden gleich noch
mehr über diesen Kulturkampf in Polen am Beispiel Wiesenbergs hören.
1939 konnten sich noch viele Menschen in
Galizien an die Besetzung durch gewalttätige russische Truppen im Ersten
Weltkrieg erinnern. Da war es logisch, dass man mit Sorge beobachtete, was im
Nachbarland Sowjetunion für Zustände herrschten.
Das Unrechtssystem der Sowjetunion steigerte
sich zum großen Terror in den Jahren 1937/1938. Die Parteisekretäre hatten
Vorgaben nur für die Anzahl der Erschießungen, ohne Nennung von Namen. In
dieser Zeit fanden in der Sowjetunion 1000 Hinrichtungen pro Tag statt. Auch
war damals bekannt, dass in der Zeit von 1928 bis 1934 mehr als drei Millionen
Ukrainer auf dem Land verhungern mussten, weil auf Befehl Stalins alle Ernten,
einschließlich Saatgut, für die Stadtbevölkerung und für den Export
eingesammelt worden waren. Man spricht in der Ukraine vom „Holodomor“,
das heißt auf deutsch Hungern bis zum Tod! Es war ein Genocid am ukrainischen Volk. Die Hungerkatastrophe in der
Ukraine hatte der bekannte Polarforscher Fritjof Nansen als Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des
Völkerbundes weltweit bekannt gemacht.
Die durch den Hunger entvölkerten Landstriche
in der Ukraine wurden später mit russischern Siedlern aufgefüllt und deren
Nachkommen lassen sich nun für den Krieg im Osten der Ukraine missbrauchen.
Russland hatte demnach schon 1935 seinen Siedlungsraum im Donbass nach Westen
erweitet. Dann kamen kurze Zeit die Galiziendeutschen, um den deutschen
Siedlungsraum Richtung Osten durch die Besiedlung des Warthegaus erweitern. Und
nun erleben wir grade den Versuch, russischen Siedlungsraum in Richtung Westen
bis an die Grenze Polens zu erweitern.
Als die Soldaten der Sowjetarmee 1939 die
Macht in Galizien übernahmen, erlebten die Menschen von einem Tag auf den
anderen nun Furcht und Verzweiflung und wirtschaftlichen Zusammenbruch. Das war
die Situation in Osteuropa, als unsere Eltern und Grosseltern sich entscheiden
mussten, in welchem Land sie zukünftig leben wollen.
Etwa 60.000 Galiziendeutsche sind 1939/1940
freiwillig aus dem sowjetischen Einflussgebiet in das Deutsche Reich
übergesiedelt. Damals waren sie wirklich Umsiedler, sogar mit dem Recht auf
Erstattung ihres zurückgelassenen Eigentums. Das bei der Ansiedlung im
Warthegau auf Kosten der Polen erstattete Eigentum war natürlich am Ende des
Krieges nichts mehr wert. Die Bezeichnung Umsiedler wurde später in der DDR
beschönigend auf alle Vertriebenen angewendet. Den Status eines
Flüchtlings bekamen die Umsiedler aus Galizien zusätzlich, als sie 1945 aus dem
Warthegau mit Pferd und Wagen vor der Roten Armee flüchten mussten, was nicht
allen gelang.
Die folgenden Beispiele und Zitate
beschreiben die Umsiedlung aus meiner Sicht, das heißt aus der Sicht eines
Lembergers und sie beziehen sich auch auf die Heimat meiner Eltern, das
deutsche katholische Dorf Wiesenberg im Kreis Żółkiew
nördlich von Lemberg. Der technische Ablauf der Umsiedlung war durch die deutsch-sowjetischen
Verträge vorgegeben und wird deshalb in den meisten deutschen Siedlungen
ähnlich gewesen sein.
In Lemberg fielen am 1. September 1939
vormittags um 11 Uhr deutsche Bomben auf den Bahnhof und auf den
Radiosender im Stadtteil Bogdanówka. Drei Wochen
später, etwa zur gleichen Zeit, als die deutsche Wehrmacht unter General Schörner Lemberg erreichte, besetzte die Rote Armee den
östlichen Teil Polens. Die Menschen erlebten nun die Wirkungen eines neuen
Wirtschaftssystems, eines Systems, das wir hier im Osten Deutschlands gut
kennen. Nach der Machtübernahme durch die Russen brach die Versorgung in
Lemberg zusammen und vor den Läden bildeten sich lange Schlangen. Aber nicht
nur die Stadtbevölkerung war in einer ausweglosen Situation. Grund und Boden
wurden sogleich verstaatlicht, denn die neuen Sowjetbürger, das waren die im
Lande lebenden Ukrainer, sollten nun auf Kolchosen arbeiten. Den freien Bauern
in den deutschen Kolonien Galiziens und vielen anderen Menschen war damit die
Existenzgrundlage entzogen.
Noch deutlicher beschreibt Prof. Erich Müller
im Jahre 1997 die Machtübernahme durch die Sowjetunion in seinen Erinnerungen -
und damit komme ich zu den Tatsachen, die von den Augenzeugen dieser
Ereignisse mit den Worten ihrer Zeit aufgeschriebenen wurden. Ich zitiere:
„Ein furchtbarer Krieg war ausgebrochen und
hatte den polnischen Staat zerschlagen, dessen loyale Bürger die Deutschen
dieses Landes waren. Und danach geschah etwas noch Unvorstellbareres:
Plötzlich trat die Rote Armee in Erscheinung, marschierte in Ostgalizien ein
und okkupierte dieses Land für die Sowjetunion.
Schon deren erste Maßnahmen - Enteignung von
Haus- und Grundbesitz, Ungültigkeits- Erklärung der Zloty-Währung und damit
aller Sparbücher und finanziellen Rücklagen sowie einsetzende Verhaftungen -
stellten alle bisherigen Lebensgrundlagen infrage und wurden von der gesamten
Bevölkerung des Landes als Bedrohung empfunden.
Zukunftsangst erfasste alle Menschen dieses
Landes, nicht nur die deutsche Minderheit, und alle bangten um ihre Sicherheit
und Existenz“. >Ende des Zitats.
Frau Elisabeth Gerbrandt,
geboren in Mierzwica, getauft im Nachbarort
Wiesenberg, erlebte als zehnjährige den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und
der Sowjetarmee in Lemberg. Sie berichtet:
„Eines Tages kamen deutsche Soldaten zu uns
und empfahlen uns, die Stadt zu verlassen und in den Vorort Zimnawoda
(Kaltwasser) zu gehen. Weil die Polen sich nicht ergaben, sollte die Stadt mit
Sturzkampfbombern bombardiert werden. Gleich am Ende unserer Strasse stand ein
Feldwebel, der uns sagte, wie wir aus der Stadt gehen sollten, um nicht unter
Beschuss zu geraten. Wir sind aber nicht bis Kaltwasser gekommen, sondern sind
in Signiówka im Haus meiner Tante geblieben. Drei
Tage lang geschah nichts. Dann fragte meine Mutter bei einer deutschen
Artillerie-Einheit an, die dort an der Hauptstrasse stand, wann die Stadt nun
endlich bombardiert werden sollte. Da antwortete der Soldat, die Stadt werde
nicht bombardiert aber wir sollten schleunigst nach Hause gehen, denn auf der
anderen Seite stünden die Russen.
Zum Glück war aber noch alles in Ordnung, als
wir zu Hause ankamen. Das polnische Militär in der Festung ergab sich den
Russen. Die Deutsche Wehrmacht zog sich in Richtung Westen zurück und einen Tag
lang war kein Militär zu sehen. Aber bevor die Rote Armee die Stadt besetzte,
zog eine Horde von Zuchthäuslern und Gefängnisinsassen durch die Stadt, denn
alle Gefängnisse waren geöffnet worden. Es herrschte Anarchie in Lemberg!“ >Ende des Zitats.
Aus dieser gefährlichen Situation gab es nur
für die deutsche Minderheit einen Ausweg und der hieß „Heim ins Reich“. Das war
eine freiwillige Umsiedlungsaktion für die so genannten Volksdeutschen als
Ergänzung zu dem Hitler-Stalinpakt. Nicht nur fast alle Deutschen meldeten sich
freiwillig, auch Ukrainer und Polen und sogar Juden wollten nach Deutschland
übersiedeln. Das aber erlaubten die deutsch-russischen Verträge nicht.
In Berlin, in dem neuen Museum „Flucht und
Vertreibung“ am Anhalter Bahnhof, wird zur Umsiedlung der Deutschen nach dem Hitler-Stalin-Packt behauptet, dass die SS die Deutschen
zur Ausreise gezwungen hat. Die Museumsbearbeiter haben damit unkritisch die
Meinung der sowjetischen Seite übernommen, die mit der bösen SS einen
Schuldigen brauchte um zu erklären, warum so viele Menschen das sowjetische
Paradies verlassen wollten. Der Schock über die Aussichten in dem Sowjetreich
Stalins leben zu müssen war groß genug, dass ein Zwang zur Umsiedlung gar nicht
notwendig war[2]. Vielmehr wollten auch Ukrainer und Juden!
„heim ins Reich“.
Die folgenden Augenzeugenberichte werden das
noch beweisen. Aber der nächste Schock am Ziel der Umsiedlung sollte noch
kommen. Für das neu gewonnene Vaterland Deutschland mussten bald viele junge Männer
als Soldaten in den Krieg gegen Frankreich ziehen. Im Frühjahr 1940, bei der
Ansiedlung der deutschen Bauern auf enteigneten polnischen Bauernhöfen wurde
den Umsiedlern bald klar, an welchem Unrecht sie ahnungslos beteiligt wurden.
Auch in Lodsch, das jetzt in Litzmannstadt umbenannt
war, mussten die umgesiedelten deutschen Stadtbewohner erfahren, dass
ihre Wohnungen vorher von Juden bewohnt waren. Das jüdische Ghetto in
Litzmannstadt war ohnehin nicht zu übersehen. Deshalb war für die Deutschen am
Ende des Krieges die Flucht vor der Roten Armee die einzige Möglichkeit, um den
schlimmen Konsequenzen dieses Unrechts zu entgehen. Nicht alle unserer Eltern
und Großeltern haben den Krieg und 1945 die chaotische Flucht überlebt.
Im Folgenden soll mit Berichten von
Augenzeugen der technische Ablauf der Umsiedlungsaktion erklärt und die
Situation vor und während der Umsiedlung dargestellt werden. Dazu wurde im
Zeitweiser der Galiziendeutschen 1999 ein Aufsatz veröffentlicht, den Sepp
Müller, ein Mitglied der deutschen Umsiedlungskommission, schon 1960
geschrieben hat. Sepp Müller ist übrigens der Vater des vorher zitierten Prof.
Erich Müller, der mit über 90 Jahren in Berlin lebt. Aus dem Bericht von Sepp Müller zitiere ich:
„Ende
November 1939 fuhr der Hauptstab der deutschen Umsiedlungskommission von Berlin
nach Deutsch-Przemysł, dem westlichen Teil der
zweigeteilten Grenzstadt am San, um mit den sowjetischen Grenzbehörden über
die mit dem Grenzübertritt zusammenhängenden Fragen zu verhandeln. Der größere
Teil der Kommission folgte einige Tage später.
Wie groß war aber das Erstaunen, als sie an
Ort und Stelle erfuhren, dass die Verhandlungen mit der sowjetischen Seite sich
nicht vom Fleck rührten, weil diese nicht bereit war, die 400-köpfige deutsche
Kommission ins Land hereinzulassen, obwohl die sowjetische Botschaft in Berlin
jedem Einzelnen das bis zum 1. März 1940 befristete Einreise- und
Aufenthaltsvisum erteilt hatte.
Die Grenzbehörden verlangten vielmehr die
Reduzierung der Zahl der vorgesehenen Ortskommissionen,
der Fahrzeuge und Fahrer usw. und erreichten durch ihre Hartnäckigkeit
schließlich, dass sich der deutsche Stab zuletzt mit rund 300 Mann einverstanden
erklärte, um das Umsiedlungswerk nicht zu gefährden. Offenbar sollte jedes Aufsehen in der Stadt
vermieden werden. Auch etwaige Sympathiekundgebungen der einheimischen
Bevölkerung sollten verhindert werden. Solche Sympathiekundgebungen waren der
deutschen Autokolonne auf dem Wege von Przemysł
bis Lemberg bereits dargebracht worden.
Die Mitarbeiter der sowjetischen
Umsiedlerkommission zeichneten sich durch zwei besonders ins Auge fallende
Merkmale aus: Verständnislosigkeit und tiefes Misstrauen. Sie konnten es
einfach nicht begreifen, warum die Deutschen nach der, wie sie es nannten, Befreiung
von der polnischen Willkür und Unterdrückung aus diesem Land fortziehen
wollten. Manche von ihnen versuchten sogar, einzelne Kommissionsmitglieder und
auch die Umsiedler davon zu überzeugen, dass die Deutschen in der Sowjetunion,
wie das Beispiel der Wolgadeutschen Republik zeige, volle und ungestörte
Entwicklungsmöglichkeiten besäßen. Und man hatte den Eindruck, dass diese
NKWD-Mitarbeiter (Geheimdienstmitarbeiter)
und Parteifunktionäre wirklich daran glaubten, was sie sagten“.
Dazu meine Anmerkung: Solche Illusionen der
Mächtigen im Kommunismus ermöglichten 1939 die Verträge zur „freiwilligen“
Umsiedlung, weil sie dachten, alle Deutschen würden im sozialistischen
Sowjetreich bleiben. Und noch 1989 hatten die Mächtigen der DDR die Illusion,
dass aus freien Wahlen eine sozialistische DDR hervorgehen würde. Im gleichen
Jahr 1989 hatten allerdings die Chinesen diese Illusionen nicht. Es gab
tausende Tote auf dem Platz des himmlischen Friedens. Und von den Chinesen
haben Putin und Lukaschenko gelernt, wie man seine Macht sichert.
Ich zitiere weiter im Bericht: „Sie waren
daher aufs höchste erstaunt, als sie dann feststellen mussten, dass die
Schlangen vor den Registrierungslokalen der Umsiedlungskommission nicht abreißen
wollten und dass Tausende und Abertausende sich eintragen ließen, und noch mehr
waren sie erstaunt, als sie sahen, dass die Registrierten trotz des inzwischen
eingekehrten Winters mit außerordentlich viel Schnee und Temperaturen bis zu
40 Grad unter Null sich in Trecks und Eisenbahntransporten tatsächlich auf den
Weg nach dem Westen machten“. >Ende
des Zitats.
Cecilia Scheller aus Hamburg, sie stammt aus
einer Familie in Bruckenthal, übergab mir im Jahre
2005 einen von ihr verfassten Bericht, der sehr eindeutig und persönlich die Ungerechtigkeit
der Situation während der Umsiedlung beschreibt, die sie als zehnjährige erlebt
hat. Ich zitiere:
„Diese Maschinerie des Schreckens, gesteuert
von Menschen mit einer niederen Gesinnung überrollte im Herbst 1939 das Land
meiner Familie, das Land, in dem ich geboren bin und wo ich zur Schule ging.
Das Land, das uns dort Geborene die eigentliche Heimat war und ist und bleiben
wird. Diese Maschinerie überfiel den geordneten, so sicher erscheinenden
multikulturellen Lebensraum, entwurzelte Millionen Menschen und verpflanzte sie
dorthin, wo sie als willenlose Sklaven den 'Eroberern' gehorchen mussten.
So erging es auch den Galiziern, die sich dem
'deutschen Kulturkreis' angehörig fühlten. Sie mussten es hinnehmen, dass es
bei den Reichsdeutschen mit ihrer Kultur nicht weit her war. Das war eine der
bitteren Enttäuschungen, die die Galizier erfahren mussten, und nicht nur die
deutschstämmigen. – Auch die Ukrainer fühlten sich im wahrsten Sinne des Wortes
betrogen in ihrer Hoffnung auf Beistand von der Reichsdeutschen Regierung.“.
>Ende des Zitats von Cecilia Scheller.
Hier finde ich den Beweis,
dass meine Eltern nicht die Einzigen waren, die im „Großdeutschen Reich“ einen
Kulturschock erlitten. Die Kultur Galiziens suche auch ich in Mitteldeutschland
vergebens.
Die Situation seines Heimatdorfes Wiesenberg
vor der Umsiedlung beschreibt Peter Lang 1969 im Zeitweiser der
Galiziendeutschen. Er berichtet, wie ein deutsches Dorf durch staatliche und
kirchliche Maßnamen zu einem Dorf von Polen umgeformt werden sollte. Ich
zitiere:
„Inzwischen war die Polonisierung
innerhalb der Kirche fortgeschritten. Der Gesang wurde zur Hälfte in deutscher,
zur Hälfte in polnischer Sprache geführt. Die Pfarrer waren fast ausschließlich
polnischer Herkunft, sprachen meistens sehr wenig deutsch und benutzten die
Kirche zur Vorantreibung der Polonisierung. Nur der
letzte vor der Umsiedlung amtierende Pfarrer in Wiesenberg Eduard Wiśniewski war eine Ausnahme. Er sprach ein gutes
Deutsch, lehrte die Kinder deutsche Kinderlieder und bewahrte während des
Krieges die Einwohner vor Repressalien.
Auch auf dem Gebiet der Schule konnte man
wenig optimistisch in die Zukunft blicken. Die deutsche Unterrichtssprache
musste der polnischen bis auf verschwindend kleine Anteile weichen. Die Lehrer
waren angewiesen, die Kinder in polnischem Geiste zu erziehen.
Bis 1934 war die politische
Gemeindeverwaltung in deutsch orientierten Händen. Aber in den nachfolgenden
Jahren wurde der Ortsvorsteher aus der Reihe des polnisch orientierten Schützenverbandes
vom Starosten (Landrat) sozusagen ernannt. Auf Druck dieser Instanz wurde die
Auswahl der Gemeindevertretung durch einen Kompromiss beider Gruppen vollzogen,
wobei schon im Vorhinein der Amtsvorsteher bestimmt war. Auf diese Weise wurde
den Einwohnern von Wiesenberg ihr demokratisches Recht zur Gemeinderatswahl
entzogen.
Andererseits war es das Ziel der deutschen
Volksgruppe, sich ihre deutsche Muttersprache, ihre deutschen Sitten und ihre
deutsche Kultur zu erhalten und zu fördern und auch die gemeinsame
Wirtschaftslage zu verbessern. Diese Politik betrieb sie keineswegs
nationalistisch, sondern erfüllte ihre Pflicht als loyale polnische
Staatsbürger, obgleich die staatlichen Organe ihnen große Schwierigkeiten
bereiteten.
Diese zielbewusste und beharrliche Arbeit
ließ die Volksgruppe zunächst erfolgreich aus diesem Kampf hervorgehen. Einen
großen Anteil an diesem Erfolg hatte auch die Jugend, die in unermüdlichem
Fleiß und Eifer besonders durch Theaterstücke die deutsche Kultur lebendig erhielt
und aus ihren Veranstaltungen einen erheblichen Reingewinn erzielte, der zur
Tilgung der Kosten für Gemeindeeinrichtungen diente.
Bei Tanzveranstaltungen und zu besonderen
Anlässen spielte eine Kapelle, die sich aus Jugendlichen des Dorfes zusammensetzte.
Trotz aller Errungenschaften war es fraglich, ob die deutsche Volksgruppe dem
immer stärker werdenden Druck der polnischen Regierung auf die Dauer hätte
widerstehen können“. Peter Lang schreibt weiter:
„Der Zweite Weltkrieg bereitete der Gemeinde
Wiesenberg ein Ende. Das Dorf wurde in „Czerwony Kamien" (Roter Stein) umbenannt. Vier männliche
Einwohner wurden verhaftet und in das Konzentrationslager Bereza
Kartuska abtransportiert, unter ihnen auch der
Verfasser. In trauriger Erinnerung ist besonders ein polnisches
Polizeiaufgebot, das kurz vor dem polnischen Zusammenbruch das Dorf überfiel,
den größten Teil der Wohnungen verwüstete und die Bevölkerung, gleichgültig
welchen Alters und Geschlechts, Repressalien aussetzte“. (Hier merke ich an:
Der polnische Pfarrer Wiśniewski und der Lehrer
Piotrowski haben durch Verhandlungen die kritische Lage entschärft). „Am 8.
Dezember 1939 traf dann eine deutsch-sowjetrussische Kommission ein, welche
die Umsiedlung der deutschen Bewohner in Wiesenberg leitete. Die Umsiedlung
erfolgte freiwillig; alle Deutschen ließen sich registrieren.
Am 11. Januar 1940 traten Frauen, Kinder,
alte und kranke Leute aus Wiesenberg mit der Eisenbahn die Reise nach
Deutschland an. Zwei Tage später, in der Nacht, rief die Glocke die letzten
Einwohner von Wiesenberg zum Abschied auf. Bei heftigem Schneesturm und sehr
strengem Frost verließen die Männer mit ihren voll beladenen Pferdewagen
schweren Herzens die alte Heimat, um einer ungewissen Zukunft
entgegenzufahren. Sie wurden von den ukrainischen Nachbarn herzlich
verabschiedet und nicht selten flossen Tränen...“
>Ende des Zitats.
Anmerkung Nov. 2024: Angeblich fuhr mein
Großvater Josef Heil mit drei Fuhrwerken aus Wiesenberg heraus, denn er war der
größte Bauer im Dorf. Die deutschen Frauen und Kinder, darunter auch meine
Mutter und ich, fuhren die ersten 90 km bis zur damaligen (und heutigen) Grenze
im Viehwaggon bis Przemysł. Dort standen wir
drei Tage bei Temperaturen um minus 20 Grad. Auf deutscher Seite konnten wir in
normale Personenwagen der Reichsbahn umsteigen und der Transport wurde dann von
Ärzten betreut.
Andere Einzelheiten der Umsiedlung beschreibt
Anton Engel (1915-1995, zuletzt in Köln, bekannt als ‚Bruche Tośiu’) in seinen Erinnerungen an Wiesenberg im
Zeitweiser der Galiziendeutschen 1986. Ich zitiere:
„Am 8.12.1939 kam aus Lemberg eine
deutsch-russische Kommission nach Wiesenberg, um alle Deutschen zu erfassen,
samt Hab und Gut. Dazu kamen auch alle Deutschen der umliegenden Dörfer: Mierzwica, Skwarzawa, Macoszyn und Soposzyn. Am
11.01.1940 traten Frauen und Kinder sowie Alte und Kranke in Güterwagen der
Eisenbahn die Reise an. Pfarrer Wiśniewski ging
auch mit.
Wiesenberg war auch die zentrale Sammelstelle
für alle, die mit dem Pferdetreck auf die Reise gingen. Am 12.01.1940 war das
Dorf voller Fuhrwerke. Das Signal zur Abfahrt war das Läuten aller Glocken.
Dieser letzte Klang traf alle tief bis in die Seele: sogar den härtesten
Männern trieb es die Tränen in die Augen.
Die Frauen und Männer wurden von den ukrainischen
Nachbarn herzlich, aber mit Wehmut verabschiedet, wobei viele Tränen geflossen
sind, denn sie wussten, dass ihnen eine schwere Zukunft bevorstand. >Ende
des Zitats.
Dieser letzte Satz von Anton Engel, genauso
wie vorher von Peter Lang, ist ein Hinweis darauf, dass das nachbarschaftliche
Verhältnis zwischen Deutschen, Polen und Ukrainern trotz der staatlich
verordneten Polonisierung bis zuletzt noch immer gut
war - und das wird uns beim Besuch in der Ukraine auch jetzt noch nach 80
Jahren von den Ukrainern bestätigt. Wie oben berichtet, begleitete Pfarrer Wiśniewski seine Gemeinde. Offenbar unter dem Eindruck
der Ungerechtigkeiten im Warthegau entschloss er sich aber zur Übersiedlung ins
General-Gouvernement.
Das waren zwei Berichte zum deutschen Dorf
Wiesenberg. In den anderen katholischen Dörfern mag es ganz ähnlich gewesen
sein. Die Umsiedlung aus der Stadt Lemberg beschreibt Elisabeth Gerbrandt recht ausführlich bis hin zu ihrer Ansiedlung in
Leipzig, wo sie mit über 90 Jahren immer noch lebt. Ich zitiere:
„Nun schickte Hitler auf Grund des Paktes mit
Stalin seine Umsiedlerkommission nach Galizien. Die Deutschen, die „Heim ins
Reich“ wollten, wurden registriert und in verschiedene Transporte aufgeteilt.
In den deutschen Dörfern wurden Trecks zusammengestellt und die Bewohner fuhren
mit Pferd und Wagen in Richtung Westen. Für die Deutschen in den Städten wurden
Güterzüge bereitgestellt. Wir hatten kaum eine Wahl: entweder „Heim ins Reich“
oder nach Sibirien. Das war eine Befürchtung, die durch die Schicksale von
zurückgebliebenen Deutschen bald bestätigt werden sollte.
Unser Transport ging am 8. Januar 1940 bei
minus 35 Grad Kälte vom Güterbahnhof Lemberg ab. Der Nachfolger in unserem
Haus, das wir erst seit eineinhalb Jahren bewohnten, Herr Nowicki,
half uns das Gepäck zum Bahnhof zu bringen. Er war auch ein Eisenbahner wie
mein Vater.
Auf dem Güterbahnhof suchten die Männer nach
Holz oder Kohle, um die Eisenöfen, die in der Mitte der Güterwagen standen, zu
beheizen. Aber es war trotzdem so kalt, dass an den Außenwänden des Waggons das
Brot und die Äpfel gefroren waren, während man sich innen fast die Knie am Ofen
verbrannte. In der Nacht kamen wir mit unserem Transport über die Brücke des
Flusses San bis Przemyśł. Es war eine
holprige Fahrt mit Rütteln und Schütteln und vielen Standpausen auf der kurzen
Strecke von 85 km.
In Przemyśł
wurden wir in einer Kaserne untergebracht und von der Deutschen Wehrmacht mit
Essen aus einer Gulaschkanone versorgt. Ein Personenzug brachte uns bald bis Pabianice bei Łódz. Dort
hatten wir Nachtquartier in einem Schaf- oder Ziegenstall. Es hat gestunken und
man wollte nicht glauben, dass man uns Deutsche so in Deutschland aufnimmt.
Aber es änderte sich nichts. Als Zehnjährige habe ich auf unserem großen Korb
gut geschlafen, aber die Erwachsenen haben sich bestimmt nicht in das Stroh
schlafen gelegt.
Am nächsten Tag ging es zur Entlausung. Es
war eine höchst unangenehme und peinliche Angelegenheit. In einem Raum mussten die
Kleider und die Unterwäsche ausgezogen werden, dann ging es unter die Dusche.
Ich merkte, dass es meiner Mutter peinlich war. Nach dem Bad gingen wir in den
Trockenraum und dann zu unserer „entlausten“ Garderobe. Man brachte uns dann in
eine saubere Tuchfabrik nach Łódz. Dort blieben
wir etwa vierzehn Tage und bekamen am 19. Januar 1940 die Einbürgerungsurkunde.
Von Łódz aus ging der Transport nach Böhmisch Leipa (Ceska Lipa).
In der großen Tuchfabrik waren zwei Fabrikhallen als Schlafräume eingerichtet
worden.
Der Raum im ersten Stock
war mit Doppelstockbetten ausgestattet, im zweiten Stock gab es eine einfache
Bettenreihe. Dadurch gab es mehr Licht und Sonne in dem Raum. Es schliefen etwa
zehn Personen in einer Reihe. Neben mir in der Reihe lag ein Herr Partyka, dann schlief meine Mutter, daneben mein Vater und
wahrscheinlich weiter ein Mann und so setzte sich die Reihe fort.
Man musste sich schließlich an das Lagerleben
gewöhnen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Ich habe aus festem Papier,
das ich in der Fabrik gefunden habe, Spielkarten gemalt und ausgeschnitten und
die Kinder zum Spielen eingeladen, um überhaupt etwas Beschäftigung zu haben.
Später bekamen wir von einem alten Lehrer, dem Rentner Herr Neumann, 2 bis 3
Stunden Unterricht in Deutsch. Es musste zuerst die gotische Schrift gelernt
und geübt werden. Später gab es im Lager eine Kindergärtnerin, Schwester Hilde,
die uns beschäftigte, uns deutsche Lieder beibrachte und mit uns im Ort
spazieren ging. Wir blieben ein halbes Jahr in dem Lager in Böhmisch Leipa. Nach etwa vierzehn Tagen ging es weiter in ein Lager
in Leipzig. Mein Vater fand in Leipzig eine Stelle bei der Deutschen Reichsbahn
im Magdeburg-Thüringer Bahnhof, die gleiche wie vorher schon in Lemberg. Wir
wurden in einer Schule in der Elsässer Strasse untergebracht. Dort durfte ich
dann den Unterricht besuchen und zwar in der Schule in der Alexanderstrasse.
Von der vierten Klasse der polnischen Schule kam ich in die fünfte Klasse der
deutschen Schule und doch war ich ein Jahr älter als die deutschen Schüler, da
wir in Lemberg erst mit sieben Jahren in die Schule aufgenommen wurden. Die Deutsche Reichsbahn
wollte meinen Vater gern in der Güterabfertigung behalten, schon allein wegen
der Sprachkenntnisse Polnisch und Russisch. So ging unsere Fahrt „Heim ins
Reich“ Mitte Oktober 1940 in Leipzig Schönefeld zu Ende. Viele unserer
Landsleute aus Galizien hatten aber weniger Glück als wir. Für sie war die
Reise „Heim ins Reich“ erst fünf Jahre später mit der dramatischen Flucht aus dem
Wartheland zu Ende“. >Ende des
Zitats. –
Das eben war ein Hinweis auf die Situation
der schulpflichtigen Kinder, die durch die Umsiedlung nicht nur das
Schulsystem, sondern meistens auch die Unterrichtssprache wechseln mussten.
Besonders informativ und eindrucksvoll sind
die Tagebuchaufzeichnungen von Dr. Hans Koch über die Umsiedlung der Deutschen
aus Ostgalizien, veröffentlicht im Heimatbuch der Galiziendeutschen 1977. Ich
zitiere zunächst aus dem Vorwort:
„Universitätsprofessor Dr. Hans Koch, von uns
einfach Dr. Koch genannt, war Stellvertreter des Lemberger Gebietsbevollmächtigten
und Chefdolmetscher der deutschen Umsiedlerkommission.
Es bestand aber kein Zweifel: er war die
Seele des ganzen Umsiedlungswerks, ihr Mittelpunkt auch über das Lemberger
Gebiet hinaus. Genaue Kenntnis der Ethnographie und Geschichte Galiziens,
einschließlich der deutschen Siedlungen, die Beherrschung der ostslawischen
Sprachen, die Vertrautheit mit der Mentalität seiner Landsleute und ihrer
slawischen Umwohner, auch der Russen. Die ihm eigene souveräne Ruhe in der
Behandlung schwieriger Fälle, wie sie bei der Umsiedlung zu erwarten waren,
befähigen ihn in hohem Grade für sein schwieriges Amt“.
In den stichwortartigen Tagebuchnotizen
benennt Hans Koch sich selbst in der dritten Person als Dr. Koch. Aus diesen
Notizen habe ich einige Kapitel herausgesucht, die vor Allem das deutsche Dorf
Wiesenberg betreffen. Die Zeitangaben „Osteuropäische Zeit“ sind
ein Hinweis auf die Umstellung auf die um zwei Stunden unterschiedliche Moskauer
Zeit durch die russischen Behörden. Die Moskauer Zeit mit Sonnenschein um
Mitternacht gab es übrigens auch bei uns im russisch besetzten
Mitteldeutschland kurz nach dem Krieg.
Ich zitiere:
„Am 9.12.1939 um 2 Uhr früh Osteuropäischer
Zeit: Eintreffen des Sonderzuges der Umsiedlungskommission in Lemberg. Der
Bahnhof ist kalt, düster, streng und abgeschlossen. Vor dem Bahnhof warten
Sowjetkraftwagen, darunter ein LKW für das Gepäck. Nach längerer Irrfahrt durch
die menschenleere, zum Teil zerschossene Stadt (gemeint ist die Elisabethkirche
am Bahnhof), landet der Stab vor einer Villa der Stryjer
Vorstadt und wird einquartiert.
12.12.1939 - also drei Tage später.
Plötzlich kam der erste Stoss von Besuchern.
Vormittags standen auf einmal Gruppen von Menschen vor unserem Haus und
begehrten Einlass. Die Sowjetwache versuchte zu bremsen, zu notieren,
auszusondern, aber sie hielt den Stoss einfach nicht durch und musste die
Menschen, mit denen sie sich obendrein nicht verständigen konnte, schließlich
auf uns abwälzen. Es kam allerlei Volk: Polen, Ukrainer, der holländische
Konsul, Juden und ein Franzose; alle wollen weg, nur weg.
Im Laufe des Nachmittags ebbte der Strom ab.
Aber gleichzeitig kam unser Anschluss an das öffentliche Telefonnetz zustande,
und nun rissen die Gespräche nicht ab. Stryj, Unterwalden,
Josefòw usw. meldeten sich kunterbunt, gewöhnlich
beide Vertreter zusammen, und wurden von Dr. Koch gleichermaßen in deutscher,
ukrainischer und russischer Sprache bedient.
Der für den 10.1. früh fällig gewesene
Transport Nr. 67 ab Rawa Ruska-Żòlkiew
ist um 15.00 Uhr Osteuropäischer Zeit noch immer nicht gestellt. Die Umsiedler
frieren im Freien bei minus 30°. Aus Rawa Ruska wird ein Toter durch Erfrierung gemeldet.
10.1.1940 – das ist Mitte Januar, als die
Umsiedlung in vollem Gange war.
Der Zug Wiesenberg - Żòlkiew,
fällig am 10.1., hat bis 11.1. noch immer keine Waggons; Die Einquartierung der
Umsiedler wurde notdürftig in ungeheizten Räumen veranlasst; Der
Sowjetvertreter in Rawa Ruska
ist besonders hilfsbereit, scheitert freilich an technischen Schwierigkeiten.
Die Güterwagen Rawa Ruska
wurden um 12.00 Uhr OEZ gestellt, aber ungereinigt - wenigstens Heizmaterial
ist vorhanden.
Gerüchteweise verlautet, dass die Lemberger
Eisenbahndirektion wegen angeblichen Waggonmangels alle Evakuierungstransporte
vorübergehend einzustellen gedenkt.
12.1.1940
Der Treck Wiesenberg (das sind die Männer mit
den Fuhrwerken) verzögert seinen Ausmarsch infolge lästiger Kontrollmaßnahmen
örtlicher Miliz und des russischen Ortsbevollmächtigten. Die Intervention des
deutschen Lemberger Gebietsstabes an Ort und Stelle am 12. 1. bleibt
erfolglos. Sollte der Ausmarsch am 13.1. noch freigegeben werden, so wird der
Treck versuchen, bis Abend Kaltwasser zu erreichen.
Als Randnotiz: Merkliches Nachlassen der
Fröste; größere Schneefälle, Schneetreiben und Verwehungen.
13./14.1.1940
Der Treck Unterwalden passierte am 14.1.
mittags die Stadt Lemberg und erreichte um 15.00 Uhr OEZ Kaltwasser. Infolge der
gestrigen Verzögerung durch sowjetische Kontrollen kam der Treck Wiesenberg
nach Sammlung in Kulikow am 14. 1. erst mittags durch Lemberg und stieß auf
Höhe von Kaltwasser auf den rastenden Treck Unterwalden. Da die Wiesenberger Pferde angesichts neuer Schneeverwehungen und
überstandener Marschleistung zum Weitermarsch zu müde waren, wurde der Treck
Unterwalden sofort aus Kaltwasser nach Gròdek
vorgeschickt, während der Treck Wiesenberg im Raume Kaltwasser übernachtet.
Seit mehreren Tagen streichen Sowjets aufgrund angeblicher höherer Befehle
stets unmittelbar vor Abmarsch die mitzunehmenden und beiderseits bereits registrierten
Landarbeiter plötzlich aus den Listen und verlangen stets eine Genehmigung
durch den deutschen Ortsbevollmächtigten.
Das wird deutscherseits
befehlsgemäß stets abgelehnt, so auch in Unterwalden und in Wiesenberg[3] “.
Ende des Zitats.
Dazu eine Anmerkung von mir zur Dauer der
Transporte: Der Treck der Fuhrwerke aus Wiesenberg war demnach vom 13. bis 15.
Januar 1940 unterwegs, das sind 3 Tage. Zum Eisenbahntransport der Frauen und
Kinder aus Wiesenberg berichten Peter Lang und Sigmund Kolmer,
dass Frauen und Kinder 2 Tage vor Abfahrt des Trecks der Fuhrwerke mit den so
genannten Viehwaggongs der Eisenbahn abtransportiert wurden. Der
Eisenbahntransport kam aber erst zwei Tage nach dem Treck der Fuhrwerke in Przemysl an. Demnach waren die Frauen und Kinder aus
Wiesenberg wegen der russischen Kontrollen und Schikanen 7 Tage lang bei
strengem Frost mit der Eisenbahn unterwegs auf einer Strecke von maximal 100
km.
Als eine Art Abschlussnotiz schreibt Hans
Koch Ende Januar:
„Die Verluste an Toten und Kranken sind doch
größer, als wir es nach den anfänglichen Meldungen geglaubt hätten. In Przemysł allein sind bisher 30 Umsiedler begraben,
zumeist ältere Menschen. Wie mir unsere Kraftfahrer berichten, waren die
Begräbnisse sehr unfeierlich, das Gefolge oft nur aus einer zufällig anwesenden
Krankenschwester bestehend, ohne jeden geistlichen Beistand. Aus Krakau werden
ebenfalls Todesfälle gemeldet.
Ein bitteres Kapitel bildet das Schicksal der
150 Gefangenen unseres Gebietes. Seit 6 Wochen bestürmen wir die Sowjets, um
die vertragsgemäße Freigabe dieser Männer und Frauen zu erreichen. Täglich
standen weinende Familienangehörige vor unseren Büros. Jetzt sind auch sie
weniger geworden; die meisten haben resigniert und sind abgereist. –
Von den 150 Gefangenen haben am Ende nur 3
die Freiheit erlangt!“
>Ende des Zitats.
Nach diesen Tagebuchaufzeichnungen soll als eine
Art Schlusswort noch ein Zitat aus einem Artikel von Sepp Müller folgen, der
als Mitglied der Umsiedlerkommission den Abschlussgottesdienst in der
evangelischen Kirche in Lemberg erlebt hat.
Ich zitiere:
„Selten war diese Kirche so überfüllt, wie an
diesem ersten Weihnachtstag 1939, als unter den Deutschen der Stadt durch
Benachrichtigung von Mund zu Mund bekannt geworden war, dass Professor Koch den
Gottesdienst und die Predigt halten werde. Deutsche Protestanten und
Katholiken füllten das Gotteshaus bis zum Rand und erlebten eine der
eindrucksvollsten gottesdienstlichen Handlungen und eine der ergreifendsten Predigten, die jemals hier gehalten wurden.
Hans Koch, Kind dieser deutschen
evangelischen Gemeinde, in dieser Kirche getauft und konfirmiert, ehemaliger
Schüler der deutsch-evangelischen Schule und des deutschen Staatsgymnasiums
der Stadt, nahm für seine Landsleute und für sich Abschied von der Kirche, der
Gemeinde, der Stadt und dem Land, die von mehreren deutschen Generationen
unter harten Entbehrungen und großen Opfern, aber mit umso mehr Liebe und Fleiß
geschaffen und ausgestaltet worden waren. Er nahm Abschied für immer und
erflehte Gottes Segen für die Zukunft“.
Zwei Wochen später aber, bei der Feier des
Heiligen Abends für die Mitglieder des Gebietsstabes,
beschloss Hans Koch seine Ansprache mit den Worten:
„Wir sind die Totengräber eines 160-jährigen
Volksgruppenlebens und seiner Kulturschöpfungen. Aber wir wollen hoffen, dass
wir gleichzeitig Wegbereiter einer besseren Zukunft für Zehntausende von
Getreuen sind“.
Das schreibt Sepp Müller über die letzten
Tage der Deutschen in Lemberg.
Mit diesen
Abschiedsworten schließe ich das Kapitel der Umsiedlung der Galiziendeutschen
1939/1940. Ich persönlich und wir alle haben unseren Eltern und ihrer ganzen
Generation zu danken für ihre Entscheidung, den Weg nach Deutschland zu wählen
- und wie wir jetzt wissen, war es auch der Weg in ein freies Europa.
P.S. 10.03.2024 – Der
Text eines Werbeplakates aus dem Jahre 1939 kennzeichnet die wahren Absichten
der Nationalsozialisten. Über diesen Text hinaus waren auch die Fähigkeiten der
Galiziendeutschen zur sprachlichen Verständigung mit den Polen im Warthegau
gefragt.
„Nach dem Feldzug der 18
Tage begann die bisher großzügigste Umsiedlungsaktion der Weltgeschichte.
Alle Volksgruppen, die
draußen ihre Aufgaben erfüllt haben, rief der Führer zurück in die Heimat ihrer
Väter. Sie helfen jetzt mit beim Ausbau und der Festigung des Großdeutschen Reiches.
In besonderem Maße werden beim Aufbau des Warthegaus ihre „kolonisatorischen Fähigkeiten“ wirksam werden“!
Ergänzung 2024 zur Flucht 1945
Dieser Bericht über die vergleichsweise
harmlose Umsiedlung der Galiziendeutschen muss unbedingt ergänzt werden durch
Berichte über die dramatischen und katastrophalen Ereignisse am Ende des
Krieges, als die Deutschen aus dem Warthegau vor der Roten Armee flüchten
mussten.
Aus meinem Vortrag zum 19. Galiziertreffen in
Ostrau am 24.09.2016 über die Geschichte der Deutschen im Wartheland zitiere
ich eine Stelle aus einem Bildband über das Wartheland:
„Als am 12. Januar 1945 die Sowjets südlich
von Warschau zum Großangriff antraten, nahm man das in Posen, in der Hauptstadt
des Warthegaus nicht besonders ernst. Der Gauleiter des Warthegaues, Arthur
Greiser, verbot jedwede Evakuierung. Erst acht Tage später, am 20. Januar,
entschied sich Greiser, die Evakuierung einzuleiten. Aber am gleichen 20.
Januar erhielt Greiser den Befehl, in Berlin neue Aufgaben zu übernehmen.
Daraufhin übergab er die Führung des Gaues an seinen Stellvertreter Schmalz. Greisers plötzliche Flucht aus Posen mit der gesamten
Parteiführung und die Aufforderung seines Stellvertreters an die deutsche
Zivilbevölkerung, die Stadt Posen in wenigen Stunden bis 24:00 Uhr zu
verlassen, lösten eine ungeheuere Verwirrung aus, die sich am 21. Januar zur
Panik steigerte“.
Was sich damals in Posen abgespielt hat, war
in Litzmannstadt (Lódz) wahrscheinlich kaum bekannt,
denn die Menschen dort hatten ihre eigenen Sorgen. Deshalb möchte ich einen
dramatischen Bericht des Eisenbahners Anton Scheller aus Bruckenthal
zitieren, der mit der Eisenbahn aus Litzmannstadt geflüchtet ist:
„Nachdem Litzmannstadt im Januar 1945 zum
ersten Mal von Flugzeugen bombardiert worden war, musste ich als Führer einer
Selbstschutzabteilung gleich in den Dienst im Bahnbetriebswerk. Wenige Tage
später traf ich einen Kesselschmied aus unserem Betrieb auf der Straße vor
unserer Wohnung mit einem Bündel. Ich fragte ihn was los sei. Er antwortete:
‚aus unserem Betrieb flüchten ja schon alle’. Ich lief schnell in die Wohnung
(Frau und Kinder waren schon bei Bromberg evakuiert) holte ein paar Sachen, die
ich auf den Schlitten lud und los ging’s in den Betrieb.
Als ich dort ankam, stand der Zug schon zur
Abfahrt bereit und nach ein paar Minuten ging es tatsächlich los. Wir kamen
nicht weit, nur bis zum Bahnhof in Litzmannstadt. Wir wurden vom Stadtkommandanten
angehalten, auf dessen Befehl wir nicht weiter durften. So standen wir noch
eine Nacht und einen Tag auf dem Bahnhof von Litzmannstadt. Am nächsten Abend
gab er uns freie Fahrt. Wahrscheinlich war er selbst mit dem Auto geflüchtet,
denn der Russe war schon in die Stadt eingedrungen.
Ein paar Kilometer hinter Litzmannstadt war
ein Zug mit verwundeten Soldaten liegen geblieben. Bei diesem Zug war von dem
vorderen Drehgestell die erste Achse entgleist. Wir mussten zuerst die Achse
ins Gleis bringen um weiterzukommen. Daran haben wir die ganze Nacht
gearbeitet, aber kaum hatten wir die Achse im Gleis, als schon die ersten
russischen Granaten nicht weit von uns einschlugen. Wir alle - Flüchtlinge und
Soldaten - waren froh, dass es weitergehen konnte. Von Litzmannstadt kamen wir
nur bis Sieradz, weil wir kein Wasser für die
Lokomotive mehr hatten. In Sieradz lag schon ein
Flüchtlingszug, beladen mit Frauen und Kindern aus Litzmannstadt. Auch dieser
Zug konnte nicht weiter, weil der Kessel kein Wasser hatte.
Es standen noch mehrere andere Züge mit
verwundeten Soldaten auf der Strecke, die nach meiner Meinung hätten gerettet
werden können, wenn ein bisschen mehr Disziplin und Verantwortung geherrscht
hätten. Aber leider waren die Herren Uniform-Eisenbahner schon weit im
Hinterland und wir blauen Eisenbahner waren die letzten, die in diesem
Abschnitt übrig geblieben waren. Mit einer Feuerwehrspritze, die man aus einem
Dorf geholt hatte, füllten wir den Kessel des anderen Zuges mit Wasser und
heizten die Lok auch an und wir füllten auch unseren Tender mit Wasser. Wir
hatten kaum sieben Kubikmeter Wasser im Tender, da kam ein Hauptmann und rief
uns zu: ‚Wenn ihr noch wegkommen wollt, so macht schnell, denn der Russe ist
schon im Dorf’.
Ich packte die kleine Motorspritze zusammen
und lud sie ein. Aber die andere Flüchtlingslock
hatte noch immer keinen Dampf. Als unser Zug sich in Bewegung setzte und die
Flüchtlinge das sahen, stürzten sie alle aus ihrem Zug und stürmten zu unserem
Zug. Ich kann es heute noch nicht vergessen, wie schrecklich das war, als die
Kinder nach der Mutter geschrieen haben. Wir hielten gleich unseren Zug an und
wir Männer luden die Kinder wie Säcke in die Wagen ein, obwohl der Zug übervoll
war. Noch bevor wir das nächste Stellwerk erreicht hatten, wurden wir von
Flugzeugen bombardiert, aber Gott sei Dank wurde unser Zug nicht getroffen, so
dass wir über die Warthe weiterfahren konnten“.…
Das
war die Situation der Menschen, die mit der Eisenbahn fliehen mussten. Mein
Vater Johann Kraus als Eisenbahner hatte die Aufgabe, mit den Holzvergaser-LKW der Deutschen Reichsbahn aus Litzmannstadt
über Posen Richtung Westen zu fliehen. Englische Flugzeuge schossen seinen LKW
bei Brandenburg/Havel in Brand, wobei all unsere Dokumente und Wertsachen
verbrannten. Seine Flucht mit mehreren LKW endete schließlich in Glückstadt an
der Nordsee. Er war aber über das Ziel der Flüchtlingstrecks aus dem Raum Kalisch informiert und fand die Familie Heil schließlich in
Drobitz im Kreis Bitterfeld, wozu Ostrau und Umgebung
damals gehörten. Auch der Bruder meiner Mutter Josef Heil kam mit 4 Kindern und
Schwiegereltern mit dem Treck in Drobitz an.
Meine Großmutter Elisabeth Henchen und die Familie meines Vaters schafften es nicht,
aus dem Raum Lentschütz den Russen zu entkommen. Der
Stiefvater Georg Henchen und weitere deutsche Männer
in diesem Gebiet wurden von den Russen erschossen. Die Großmutter mit Tochter
und Enkelin konnten sich erst 1947 durch Flucht aus der polnischen
Gefangenschaft befreien.
Meine persönlichen Erinnerungen beziehen sich
auf die Flucht mit dem Pferdewagen und mit der Bahn. Meine Mutter hatte
sich dem Treck aus dem Ort Russdorf bei Kalisch
angeschlossen, weil dort ihre Familie lebte. Allerdings gab es auf unserem
Fuhrwerk der Familie Heil nur Frauen, Kinder und alte Leute, denn die Männer
und Brüder waren als Soldaten an der Front. Rosa, die 18-jährige Schwester
meiner Mutter war die Wagenlenkerin, dazu meine Großmutter Katharina Heil und
meine Mutter mit zwei Kindern. Meine Urgroßeltern Philipp und Anna Heil mit
über achtzig Jahren wurden unterwegs dem deutschen Roten Kreuz übergeben. Nach
dem Krieg wurde bekannt, dass Anna Heil nach dem Tod ihres Mannes in Lódz, im Sommer 1945 allein bis Lemberg gefahren ist. Sie
informierte auf dem Bahnhof noch sterbend einen Eisenbahner aus Wiesenberg über
ihr Schicksal.
Unsere Flucht mit dem Treck war nach etwa 120
km zu Ende. Wir mussten Wagen und Pferde in Lissa,
dem damaligen Grenzort Polen/Deutschland stehen lassen, denn die Pferde hatten
wund gelaufene Hufe. So sind wir von Lissa mit dem
Zug weitergefahren. Wegen fehlender Essensvorräte sind wir aber in Kamenz schon wieder ausgestiegen. Andernfalls wären wir im
brennenden Dresden gelandet. Nach Aufenthalten in Pantschwitz und Erfurt-Möbisburg kamen wir noch während des Krieges bei
unseren Verwandten in Drobitz bei Halle an. Auf dem
Weg dorthin, auf der Eisenbahnstrecke vor Leipzig, erlebten wir den letzten
Bombenangriff, woran ich mich erinnere und ich erinnere mich auch an die
Ankunft auf dem Bahnhof Stumsdorf als letzte Station
unserer Flucht.
Meine Erinnerungen als Fünfjähriger an die
Flucht sind nur stückweise und ich konnte den Ernst der Lage natürlich nicht
begreifen. Deshalb möchte ich zum Schluss noch einen Bericht des Franz Bill aus
Machliniec in Galizien anfügen, der damals 16 Jahre
alt war. Er fuhr zur gleichen Zeit den gleichen Weg wie wir unter den gleichen
Bedingungen. Der Bericht ist entnommen aus einer Serie von Berichten aus „Das
heilige Band“, erschienen 1999.
„Am 19. Januar 1945 morgens um 4 Uhr bekamen
wir den lang erwarteten Befehl, mit Pferd und Wagen loszufahren. Als wir kurz
nach 4 Uhr aus unserem Ort Zinna, Kreis Kalisch im Warthegau losfuhren, lag viel Schnee und das
Thermometer zeigte minus 21° C. Den Wagen voll beladen hatten die Pferde schwer
zu ziehen, aber es ging nicht weit bis zum Stillstand. Schon nach 2 km, bevor
wir die Hauptstraße erreichten, mussten wir bis zum Morgengrauen warten, denn
die Hauptstraße war überfüllt. Als es weiterging, war es bereits hell und da
wurden wir von Tieffliegern angegriffen. In unserer Nähe wurde Gott sei Dank
niemand getroffen. In der ersten Nacht bekamen Mutter und Schwester einen
Schlafplatz in einem Haus, ich musste auf dem Wagen die Nacht verbringen.
Morgens waren die Stiefel an den Füßen so gefroren, dass ich kaum gehen konnte.
Bei der Weiterfahrt war es sehr glatt auf der
Straße, und die Pferde sind öfters hingefallen. Auch war es für die Pferde
schwer, denn die Räder waren eingefroren und haben sich nicht gedreht. In der
darauf folgenden Nacht konnte man auch nicht schlafen, denn wir waren mit
vielen Leuten in einem Raum. Als wir am nächsten Morgen in Richtung Lissa losfuhren, holten uns die Volkssturmmänner von der
Front kommend ein. Sie hatten mit Russen Kontakt bekommen und waren voller
Angst. So sind wir den ganzen Tag schnell gefahren. Das war möglich, denn die
Straße war hier nicht sehr belegt. Einige Kilometer weiter war die Straße so
verstopft, dass wir die ganze Nacht auf einer Stelle standen. Die Verzweiflung
wuchs immer mehr, aber es ging nicht weiter. Gegen Morgen sahen wir, dass
weiter vorn zwei Straßen zusammenkamen, und die Menschen auf der anderen Straße
haben uns nicht draufgelassen. Ich kurz entschlossen, bin über das gefrorene
Feld gefahren, und so kam ich etwas weiter doch auf die Straße. So kamen wir
weiter, wenn auch schlecht.
Wir kamen vom flachen Land und hatten keine
Bremse am Wagen, hier aber war es schon bergig, und so kam es zu Unfällen.
Alles, was nicht mehr konnte, landete im Straßengraben. Wagen, tote Pferde und
sonst allerhand Sachen. Die nächste Nacht mussten wir durchfahren. Obwohl es
eine sternklare Nacht war, hat uns ein Panzer den Wagen zu Bruch gefahren. Zum
Glück hatten wir Werkzeug bei uns und so konnten wir den Wagen reparieren.
Gegen Morgen kamen wir in Lissa
an, und wir schöpften neue Hoffnung, weil wir an Schildern lesen konnten, dass
sich hier eine Panzerabteilung sammeln sollte. Wir dachten, sie werden die
Front aufhalten, aber zu unserer Enttäuschung, als sie sich gesammelt hatten,
zogen sie an uns vorbei nach Westen, und wir waren wieder mitten in der Front.
Fünf Tage und Nächte haben wir kaum Schlaf bekommen, und als wir jetzt in einem
Ort in der Nacht ankamen, wurde es ruhiger mit dem Schießen, so wollten wir uns
etwas warmes zu essen machen und schlafen, denn die ganze Zeit hatten wir
gefrorenes Brot und Fleisch gegessen“….
Ende des Zitats.
Es ist erstaunlich, wie unsere Familie unter
diesen Bedingungen sich wieder gefunden hat. Meine Eltern waren nun mit zwei
kleinen Kindern zum zweiten Mal in ihrem Leben heimatlos geworden. Abschließend
erinnere ich noch einmal an die Propagandaschrift der Nationalsozialisten für
die Umsiedlung 1940, denn nun wurden die
„kolonisatorischen Fähigkeiten“
der Galiziendeutschen für einen Neuanfang
nach dem Krieg aufs Neue gefordert.
W. Kraus
[1] Manfred Scheuch: Historischer Atlas Deutschland, Seite 99, Weltbild Verlag GmbH Augsburg 2000
[2] Am 4.6.2023 wurde dieser Vortrag mit Kennzeichnung der das Museum
betreffenden Sätze einer Mitarbeiterin des Museums von W. Kraus übergeben.
[3] Mit den Landarbeitern sind offenbar ukrainische und
polnische Hilfskräfte gemeint, damals als Knechte bezeichnet, die für den
Neuanfang im Warthegau gebraucht wurden.